Beitrag vom 29.07.2025
Die Welt
Die postkoloniale Theorie will, dass wir dieses Narrativ glauben. Hier wird es widerlegt
Von Matthias Heine, Feuilletonredakteur
Ewige Schuld des weißen Westens, ewige Unschuld Afrikas. So schlicht ist das Weltbild, das in vielen Universitäten, Museen und Kunstwerken vermittelt wird. Ausgerechnet ein ehemaliger SPD-Minister zerpflückt nun umfassend und gut belegt diese Theorien.
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Lediglich gut 20.000 Euro werden noch benötigt, um ein gewaltiges Verbrechen des deutschen Kolonialismus wiedergutzumachen: die Verschleppung eines Steins. Den Gesteinsbrocken brachte der Leipziger Verleger Hans Meyer 1889 von seiner Erstbesteigung des Kilimandscharo zurück. Der Berg lag damals in der deutschen Kolonie Ostafrika und trug bis 1964 den Namen Kaiser-Wilhelm-Spitze. Die Künstlergruppe PARA will den halben Stein (die andere Hälfte ist verschollen) für 40.000 Euro von einem österreichischen Antiquar kaufen.
Die Künstler behaupten, den Nachfahren der Indigenen im heutigen Tansania, denen man einst den Stein geraubt hätte, sei seine Rückkehr wichtig, um die Integrität des Berges wiederherzustellen. Und wie das so ist in Deutschland, das sich den „postkolonialen Mythen“, von denen Mathias Brodkorb in seinem neuen Buch berichtet, gänzlich unterworfen hat: Die PARA-Künstler durften im Leipziger Grassi-Museum einen Automaten aufstellen, an dem man Kopien des besagten Steins aus Ton für 20 Euro erwerben kann. Mit dem Geld soll der Freikauf des Originals finanziert werden. 908 Stück sind bisher verkauft.
Der studierte Philosoph Mathias Brodkorb war für die SPD Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern. Seit längerer Zeit vertritt er aber Positionen, die nicht immer im Einklang mit dem Mainstream seiner Partei sind. So hat er in seinem Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat“ 2024 kritisiert, der Verfassungsschutz lege seiner Arbeit eine willkürliche Definition von Extremismus zugrunde. Er forderte die Reform oder gar Abschaffung der entsprechenden Behörden.
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Mit ähnlicher Gründlichkeit und gedanklicher Schärfe analysiert Brodkorb nun die „postkolonialen Mythen“, die von einer „kommunikativen Kette“ verbreitet würden: Diese beginne meist im „wissenschaftlichen Feld“ (in dem nicht alles Wissenschaft ist), führe dann weiter zu Museen und Kunstwelt und ende schließlich bei der publizistischen Öffentlichkeit und politischen Diskursen. Sein Buch ist die beste kritische Einführung in das auf diese Weise verbreitete Denken, die momentan zu haben ist. Und es stellt die Experten vor, die dieses Denken mithilfe von Begriffen wie „epistemische Gewalt“ (so nennt die Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak es, wenn westliche Weiße mit Argumenten diskutieren) global verbreitet haben.
Oft sind es schon die bloßen Zitate, die dem Leser den Eindruck vermitteln, es handele sich bei diesen Intellektuellen um sexbesessene Horrorclowns (ein Ausdruck, den der höfliche Brodkorb nicht verwendet). Das reicht von den bekannten unsäglichen Gewaltphantasien Frantz Fanons, einem Begründer der postkolonialen Theorie, bis hin zu den pornografischen Obsessionen des in Kamerun geborenen Politikwissenschaftlers Achille Mbembe. Dieser erläutert die kolonialistische „Geste“ so: „Ohne sein Glied ist der Kolonialherr nichts. Dank seines Glieds kann die Grausamkeit des Kolonialherren ihr nacktes Haupt erheben: in der Erektion. Das Glied des Kolonialherrn, ein ständig sabbernder Fleischlappen, kann seine heftigen Bewegungen kaum zügeln. Gespannt wie ein Bogen schnüffelt es überall herum, entblößt, schnappt zu, reibt sich, stößt zu und hechelt. Es zieht sich nie zurück, ohne ein milchiges Rinnsal zurückgelassen zu haben: die Ejakulation.“ Für Theorien dieser Qualität bekam Mbembe 2015 den Geschwister-Scholl-Preis.
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Brodkorb beschreibt in seinem Buch auch, wie Esoterik im postkolonialen Diskurs allzu oft Fakten, historische Quellenbelege und juristische Argumente ersetzt. Nicht nur beim Leipziger Gerede von der „Integrität“ des Kilimandscharo. Mbembe fordert „organische, mineralische, biosphärische Dimensionen der Existenz, all das sollte in die Ratifizierung einer Demokratie einbezogen werden.“ Vorbildlich in diesem Sinne handelte die Modedesignerin Cynthia Schimming 2019. Sie glaubte ernsthaft, eine Puppe aus Namibia in Berlin habe zu ihrer „Seele“ gesprochen und verraten, dass sie einem toten Kind weggenommen worden sei. Schimming taufte die Puppe auf den Namen „Uatunua“ und ist sich sicher: „Uatunua hat darauf gewartet, dass ich sie nach Hause bringe.“
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Diese rein imaginierte Herkunftsgeschichte wird wiederum im viel gefeierten Film „Der vermessene Mensch“ dramatisiert, für dessen Kostümbildnerei Schimming zuständig war. In einem fiktionalen Werk wäre das auch kaum zu beanstanden – wenn nicht die Kinofiktion mit dem Anspruch aufträte, die eigentliche Wahrheit zu zeigen.
Derartige animistische Berufung auf solche Botschaften ist im „postkolonialen Narrativ“ gang und gäbe. So zitiert Brodkorb etwa Christian Schicklgruber, bis 2021 Leiter des Wiener Weltmuseums, der vom Angehörigen einer indigenen Priesterfamilie aus Costa Rica mit direktem Kontakt zu den Geistern erfahren haben wollte, dass eine Darstellung des Gottes Sibú in Wien quasi gefangen gehalten würde.
An anderer Stelle lässt Brodkorb sich vom Nachfahren eines „Kings“ der Duala in der deutschen Kolonie Kamerun über afrikanische Artefakte erklären: „Alle diese Sachen, die Sie hier sehen, die sind nicht Dinge! Die reden!“ So sieht es auch Bénédicte Savoy, eine der wichtigsten Impulsgeberinnen der deutschen Restitutionsdebatte. Nur verbrämt die französische Kunsthistorikerin die Botschaften, die sie von afrikanischen Kunstgegenständen zu empfangen glaubt, mit wissenschaftsähnlichem Jargon: „Viele unter ihnen sind mit singulären Kräften, generationsübergreifenden Geschichten, einem Charakter, einer Macht, manche sogar mit einem Willen und einer Sprache ausgestattet.“
Möglicherweise würden ohne den europäischen Kolonialismus in Afrika auch heute noch ganz offiziell Sklavenhaltergesellschaften existieren
Solche magischen Argumente sind oft auch bitter notwendig. Denn die rechtlichen Grundlagen für die Rückgabe von Gegenständen in europäischen Museen sind häufig nicht besonders stichfest. Brodkorb zerpflückt sie an einigen Beispielen beispielhaft. Weil das so ist, hat sich der postkolonialistische Schwarm auch längst darauf verlegt, die Restitution mit dem vagen Begriff der „historischen Gerechtigkeit“ zu rechtfertigen.
Diese wiederum wird konstruiert, indem man die Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus im wörtlichen Sinne schwarz-weiß darstellt: Gewalt, Menschenhandel, Angriffskriege und Ausbeutung werden zu Phänomenen erklärt, die mit der Ankunft der Weißen in ein vorher friedlich im Einklang mit seinen Geistern und Traditionen lebendes Afrika einbrachen. 2022 verstieg sich die Historikerin Rebecca Habermas zu der Behauptung, dass die Sklaverei erst „durch Europa in Afrika eingeführt wurde“.
Eingeführt wurde der Sklavenhandel von Arabern
Dabei blühte der Handel mit afrikanischen Sklaven bis nach Arabien und Persien schon im 10. Jahrhundert. Etabliert wurde das Geschäftsmodell von muslimischen Kaufleuten. Die Europäer schalteten sich nach ihrer Ankunft nur in diese Praxis ein und leiteten den Strom der menschlichen Ware über den Atlantik um. Dennoch beträgt die Zahl der Opfer der islamischen Sklaverei 17 Millionen (einschließlich der als unbrauchbar ermordeten Kinder und Alten), die des weißen „Sklavismus“ 12 Millionen.
Brodkorb geht es in seinem Buch nicht darum, die Verbrechen europäischer Sklavenhändler und Kolonialisten zu vertuschen, er zerpflückt aber das Narrativ, wonach die Schwarzen quasi im Stande unschuldiger naiver Kinder gewesen seien und alles Böse auf dem Kontinent erst mit den Europäern beginnt.
Die Gründe für das Schweigen über den islamischen Sklavenhandel oder auch über die Millionen Weißen, die von Nordafrikanern bei Raubzügen nach Europa versklavt wurden, sind vielfältig. Eine große Rolle spielt laut Brodkorb, dass sich das Zentrum der Diskussion über Sklaverei nach 1945 in die USA verlagert habe. Dadurch seien alle anderen Formen der Sklaverei aus dem Bewusstsein verschwunden. Der im Senegal geborene Anthropologe Tidiane N’Diaye benennt noch eine weitere Erklärung für das anhaltende Beschweigen der durch Araber verursachten Sklaverei in Afrika. Er glaubt, es liege an „einer gewissen religiösen und ideologischen Solidarität“ der afrikanischen mit den arabischen Muslimen.
Beliefert wurden Weiße und Araber von Schwarzen, die andere Schwarze jagten und versklavten und darauf die Ökonomie ganzer Staaten gründeten. Vor der massenhaften Verfügbarkeit des Malaria-Medikaments Chinin konnten Europäer das Innere Afrikas nicht gefahrlos betreten. Sie etablierten lediglich Küstenstützpunkte, wo sie die Menschen in Empfang nahmen, die ihnen Einheimische brachten. Als Europäer ins Innere Afrikas eindrangen, war der transatlantische Sklavenhandel längst durch die Briten unterbunden worden. Brodkorb kommt zum Schluss: „Möglicherweise würde ohne den europäischen Kolonialismus in Afrika auch heute noch ganz offiziell Sklavenhaltergesellschaften existieren. Inoffiziell ist das ohnehin der Fall.“
So eine auf Sklavenhandel und Menschenopfern beruhende Gesellschaft war auch das Königreich Benin, die Heimat der sogenannten „Benin-Bronzen“, die längst sinnbildlich für schrankenlose Rückgabe afrikanischer Kunstgegenstände aus deutschen Museen stehen. Benin wird heute als sympathisches globalsüdliches Königreich dargestellt, dessen harmonische Gesellschaft von den Briten durch einen brutalen Angriff zerstört wurde.
Doch Brodkorb schildert in seinem Buch, wie dieser Angriff durch ein Massaker an einer britischen Handelsdelegation provoziert wurde, das der lokale Herrscher – der Oba – mindestens zuließ, wenn nicht gar veranlasste. Er beschreibt auch, was die Bronzen erzählen würden, wenn man sie reden hören könnte – wie es die postkoloniale Magie behauptet: Sie wurden gefertigt aus dem Material sogenannter Manillas, mit denen die Sklaven bezahlt wurden. Und sie spielten wohl auch eine Rolle bei blutigen Menschenopfern.
„Menschenopfer“ und „Kriminelle“
Der Begriff „Menschenopfer“ wird von Benin-Apologeten oft abgelehnt, weil es sich nur um die Hinrichtung von „Kriminellen“ gehandelt habe. Gerne wüsste man genauer, wodurch man im Gottesstaat Benin, in dem der Oba auch über die einheimische Bevölkerung herrschte wie über seine Sklaven, eigentlich zum „Kriminellen“ wurde.
Der britische Militärarzt Felix Roth berichtet in seinen Erinnerungen an die Strafaktion 1897: „Als wir uns Benin City näherten, kamen wir an mehreren Menschenopfern vorbei, lebenden Sklavinnen, die geknebelt und auf dem Rücken an den Boden geheftet wurden, wobei die Bauchdecke in Form eines Kreuzes aufgeschnitten wurde und der unverletzte Darm heraushing. Diese armen Frauen durften so in der Sonne sterben.“ Für die Frauen wäre es sicher tröstlich gewesen, zu hören, was Professor Muyiwa Falaiye von der Universität Lagos herausgefunden hat: „Es ist erträglicher und akzeptabler, wenn Menschen derselben Hautfarbe einander versklaven.“
In deutschsprachigen Museen, die Brodkorb in Berlin, Hamburg, Leipzig und Wien unter die Lupe genommen hat – er nennt sie „Ideologiemaschinen“ –, erfährt man solche Geschichten selten bis nie. Das liegt auch daran, dass diese Institutionen mittlerweile überall Abkömmlingen von „Ursprungsgemeinschaften“ aus den Heimatländern ihrer Artefakte das letzte Wort lassen. So zählt dann die Vision eines Künstlers oder anderweitig Berufenen, der Geisterstimmen hört, mehr als ein Augenzeugenbericht, eine Akte oder das Urteil eines Fachmannes, das nicht im Einklang mit dem postkolonialen Narrativ ist.
Beim Sklavenhandel lernten Christen von Muslimen
In solchen Milieus kommt auch keiner auf die Idee, ob mit den 40.000 Euro für die Rückkehr eines Steins an den Kilimandscharo nicht vielleicht etwas Besseres anzufangen wäre. Für die Summe könnte man im heutigen Sudan, wie Brodkorb am Ende seines Buches berichtet, viele Frauen und Kinder aus der dort immer noch praktizierten Sklaverei freikaufen. Aber das interessiert im postkolonialistischen Gemenge niemanden, weil keine Weißen beteiligt sind (außer als Freikäufer), sondern Täter und Opfer Afrikaner sind.
Mathias Brodkorb: „Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativ“. Zu Klampen, 268 Seiten, 28 Euro.