Skip to main content
For a different development policy!

Beitrag vom 18.07.2024

NZZ

PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL IN RWANDA

99 Prozent sind kein Zeichen der Stärke

Samuel Misteli, Nairobi

99,15 Prozent waren es diesmal, laut dem provisorischen Resultat. 99,15 Prozent aller Rwanderinnen und Rwander haben bei der Wahl vom Montag angeblich Paul Kagame gewählt. Es ist ein weiterer erdrückender Sieg für den Präsidenten. Die Prozentzahlen bei den Wahlen zuvor: 95,05 Prozent, 93,08 Prozent, 98,79 Prozent. Paul Kagame ist seit drei Jahrzehnten die alles überragende Figur in Rwanda. Er ist einer der am längsten regierenden Staatschefs der Welt. Er wird nun bis 2031 regieren. Mindestens.

99,15 Prozent – man kann das als Zeichen der Stärke sehen. Als Belohnung dafür, dass der ehemalige Guerillaführer Kagame seinem Land Stabilität gebracht hat, nachdem es 1994 in einer beispiellosen Gewaltorgie versunken war. Mehr als 800 000 Menschen wurden in Rwandas Genozid ermordet, die meisten gehörten zur Ethnie der Tutsi. Kagames Rebellenarmee beendete das Schlachten. Seither hat Kagame Rwanda zu einem Land geformt, das viele in Afrika als Vorbild sehen.

Doch 99,15 Prozent sind kein Zeichen von Stärke. Die Prozentzahl ist das Resultat einer unfreien Wahl in einem Land, dessen Führer viel erreicht hat, aber offenbar dem eigenen Werk nicht traut – und sich deshalb für unersetzbar hält.

Viele von Kagames Verdiensten sind unbestritten. Rwanda ist heute eines der sichersten Länder in Afrika. Auch eines der am wenigsten korrupten: Nur Botswana weist auf dem afrikanischen Festland laut Transparency International bessere Werte aus als Rwanda. In vielen afrikanischen Ländern sind Ministerien gefüllt mit inkompetenten Leuten, die dank familiären oder anderen Beziehungen an ihre Posten gelangten. In Rwanda riskieren leitende Beamte, die ihre Jahresziele verfehlen, den Job zu verlieren.

Rwandas Wiederauferstehung hat Kagame viele Freunde verschafft, gerade im Westen. Internationale Hilfe trägt 40 Prozent zu Rwandas Staatshaushalt bei. Manche europäische Politiker halten Rwanda für stabil genug, um Asylverfahren nach Zentralafrika auszulagern. Doch Rwanda ist ein Vexierbild. Es gibt neben dem Land mit sauber asphaltierten Strassen und modernen Konferenzzentren auch ein anderes Rwanda, das noch immer ärmer ist als die meisten afrikanischen Länder. Mehrfach haben Wissenschafter und Journalisten nachgewiesen, dass Rwandas Regierung ihre Armutsstatistiken fälscht.

Das stabile Rwanda sorgt für Instabilität in der Region: Rwandische Soldaten sind im nahen Ostkongo aktiv. Sie unterstützen dort die Rebellengruppe M23, die Hunderttausende Menschen vertrieben hat. Darüber wird weniger gesprochen. Denn Kagames Regierung verfolgt Kritiker unerbittlich, auch im Ausland. Mehrere prominente Oppositionelle wurden ermordet, andere landeten in Haft, wurden gefoltert. Es heisst manchmal, Paul Kagame sei gleichzeitig Visionär und Diktator. Das kann sein. Aber es ist möglich, dass der Diktator das Werk des Visionärs zerstört.

Manche glauben, Rwanda funktioniere gerade dank Kagames harter Hand. Sie glauben, dass es keine Alternative zum Autoritarismus gebe. Und dass das rwandische Modell auch für andere afrikanische Länder taugen könnte, in denen korrupte Regierungen lieber die eigenen Bankkonten füllen statt Schlaglöcher. Doch Kagames Modell strahlt nur so hell, weil es kritische Stimmen erstickt, die auch auf Probleme hinweisen. Das ist auf Dauer gefährlich. Selbst die ethnischen Konflikte, über die man nicht sprechen darf, könnten wieder aufflammen. Frank Habineza, ein an sich zahmer Oppositionskandidat, sagte vor der Wahl zur NZZ: «Wenn man die Meinungsfreiheit dauerhaft unterdrückt, greifen irgendwann Leute zu den Waffen.»

Letztlich stellt sich die Frage: Wenn Paul Kagame so erfolgreich war, wie seine Bewunderer versichern, wenn er dem Land Stabilität gebracht und fähige Leute gefördert hat – weshalb sollte Rwanda noch immer auf ihn angewiesen sein?