Beitrag vom 12.10.2021
NZZ
Kolonialismus soll nicht beschönigt werden. Aber die afrikanischen Verhältnisse werden in diesem Kontext nicht selten verklärt
Die koloniale Erschliessung Afrikas im 19. Jahrhundert gibt Anlass zur Selbstkritik Europas. Dabei wird aber ausgeblendet, dass die europäische Kolonialisierung Afrikas in manchen Ländern auch Verbesserungen wie die Beendigung der Sklavenjagd gebracht hat.
Richard Schröder
Die Eröffnung des Humboldt-Forums in Berlin hat der Debatte um den Kolonialismus in Afrika neuen Auftrieb gegeben. Zu Recht gilt die koloniale Erschliessung des inneren Afrikas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heute als ein düsteres Kapitel, für das sich Europa zu schämen und um Entschuldigung zu bitten hat. Das ist berechtigt, namentlich für die unsäglichen «Strafexpeditionen» und für das Kolonialregime in der Kongo-Kolonie des belgischen Königs, das an Brutalität kaum zu überbieten war, ähnlich im portugiesischen Angola. Beide Fälle sind aber nicht typisch für die europäische Kolonialherrschaft in Afrika.
Aus dieser berechtigten Kritik darf nicht gefolgert werden, Afrika habe sich zuvor in einem friedlichen oder gar glücklichen Zustand befunden, den die Kolonialherren in ihrer Gier zerstört hätten. Vielmehr sahen sich die ersten Erforscher des inneren Afrikas im 19. Jahrhundert mit den unvorstellbaren Verwüstungen konfrontiert, welche die über Jahrhunderte andauernde Sklavenjagd arabischer und schwarzafrikanischer, zumeist berittener Sklavenjäger angerichtet hatte.
Im 19. Jahrhundert war im Kongobecken schliesslich ein Gebiet von der Grösse Irlands nahezu entvölkert. Die Sklaven wurden über Sansibar und die Sahara in die islamische Welt bis nach Indien deportiert, zwischen 650 und 1920 waren das 17 Millionen.
Es gibt kaum Augenzeugenberichte
Die Sklaverei umfasst drei Dimensionen: die Sklavenjagd, den Sklavenhandel und die Sklavenhaltung. Von denen waren die Sklavenjagd und der Transport bis zur Küste der mörderischste Teil. Dafür gab es bis zur Erschliessung Innerafrikas aber kaum Augenzeugenberichte in Europa. Man hatte nur die Versklavung von Südeuropäern durch die nordafrikanischen Korsaren erlebt.
Während die europäischen Seemächte ab 1519 kräftig am transatlantischen Sklavenhandel verdienten, gab es in Europa selbst keine Sklaverei. Aber dort und in Nordamerika entstand – weltweit einmalig – eine Protestbewegung gegen die Sklaverei (Abolitionismus), die besonders von Quäkern, Mennoniten, Methodisten, Baptisten und Pietisten, also Gruppen entschiedenen Christentums, getragen wurde. 1787 wurde in England die Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei gegründet. Sie forderte zunächst nur die Abschaffung des Sklavenhandels, da Europäern die afrikanischen Gebiete, in denen die Sklavenjagd stattfand, nicht zugänglich waren und die Erwartung bestand, dass die Sklavenhaltung schliesslich wegen fehlenden Nachschubs sozusagen austrocknen werde, was sich so nicht bestätigt hat.
Wirtschaftliche Erschliessung aus humanitären Gründen
Ihr Hauptargument: Da alle Menschen Kinder Gottes sind und Gottes Ebenbild, also Gott gehören, dürfen Menschen nicht Eigentum eines anderen Menschen sein, da dies Gottes Eigentumsrecht an jedem Menschen frevelhaft infrage stellen würde. Das Argument findet sich bereits im «Sachsenspiegel» aus dem 13. Jahrhundert. Der Missionar und Afrikaforscher David Livingstone wurde 1871 Augenzeuge des Überfalls berittener arabischer Sklavenjäger auf ein afrikanisches Dorf. Vierhundert Dorfbewohner wurden niedergemetzelt, eine unbekannte Zahl in die Sklaverei verschleppt. Insgesamt wurden bei diesem Raubzug 27 schwarzafrikanische Dörfer niedergebrannt.
Livingstone folgerte aus diesem Erlebnis, der Sklavenjagd könne nur durch die wirtschaftliche Erschliessung Afrikas für den Welthandel die Grundlage entzogen werden. Er hat also den Europäern aus humanitären Gründen die wirtschaftliche Erschliessung Afrikas empfohlen. Sein Tagebuch wurde 1874 postum in London veröffentlicht und stärkte die öffentliche Meinung gegen die Sklaverei wie zuvor schon «Onkel Toms Hütte» (1852), das in England eine Million Mal verkauft wurde.
Nacktes Überleben
Der Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85 wird vorgeworfen, die europäischen Mächte hätten über die Köpfe der Betroffenen hinweg das Innere Afrikas unter sich aufgeteilt. Das stimmt, aber die Betroffenen in den Zonen der Sklavenjagd hatten damals keine Stimme. Sie waren auf das nackte Überleben zurückgeworfen und jeglicher Entfaltungsmöglichkeit beraubt. Die Kongoakte machte neben dem Freihandel das Verbot des Sklavenhandels verbindlich.
Die koloniale Erschliessung Afrikas im 19. Jahrhundert gibt Anlass zur Selbstkritik Europas, die ja auch grundsätzlich stattfindet. Sie gibt aber auch Anlass zur Selbstkritik der damaligen Sklavenjäger, die kaum stattfindet. Adaobi Tricia Nwaubani hat dieses Tabu gebrochen und geschrieben: «Mein nigerianischer Urgrossvater verkaufte Sklaven.» Die nigerianische Schriftstellerin hat plastisch die Selbstverständlichkeit geschildert, mit der damals die Sklaverei von Schwarzafrikanern praktiziert wurde.
Ihren Urgrossvater möchte sie aber nicht so gern als Sklavenhändler, sondern lieber als Geschäftsmann ansehen, der mit diesem und jenem und auch mit Sklaven gehandelt habe. Das sei ihr mit Nachsicht gegönnt, wenn bitte auch unseren Vorfahren ein wenig Nachsicht gegönnt wird. Sie waren keine Monster, sondern «es irrt der Mensch, solang er strebt» (Goethe).
Kolonialismus hatte Europäisierung zum Ziel
Die europäische Kolonialisierung Afrikas hat – von Belgisch-Kongo und Angola abgesehen – durchaus auch Verbesserungen der Lebensverhältnisse gebracht, namentlich die Beendigung der Sklavenjagd.
Der Sklaverei ist vorzuwerfen, dass sie Menschen als beseelte Sachen (Aristoteles) behandelt, erniedrigt und massenhaft hat umkommen lassen. Die Versklavung bedeutete den sozialen Tod, den Verlust der Familie, der Sprache und jeglicher Zukunftshoffnung.
Dem Kolonialismus ist weniger vorzuwerfen. Er hat die «Eingeborenen» wie Kinder behandelt, die «zivilisiert» – und das hiess faktisch: europäisiert – werden müssen. Dies übrigens nach den Massstäben einer sehr rigiden Pädagogik. Aber im «Mutterland» war damals die Pädagogik auch nicht zimperlich.
«Westliche Werte»
Und dennoch: Die meisten afrikanischen Führer von Befreiungsbewegungen und die meisten ersten Staatsmänner in der Unabhängigkeit haben ihren Bildungsgang in christlichen Missionsschulen begonnen und oft mit einem Studium im «Mutterland» der Kolonie fortgesetzt. Offenkundig war das Resultat solcher Bildungsgänge nicht «Servilität» (servus = Sklave), sondern der Sinn für Freiheit und Selbstbestimmung.
Afrikanische Christen sagen heute: Wir sind den Missionaren dafür dankbar, dass sie uns von der Geisterfurcht befreit haben.
Und was die «westlichen Werte» betrifft, von denen manche kritisieren, die Kolonialmächte hätten sie den Einheimischen aufgezwungen: Wollen wir ernsthaft den Kolonialmächten vorwerfen, dass sie in Afrika die Hexenverfolgung, Menschenopfer und die Sklavenjagd, in Indien die Witwenverbrennung und in Polynesien die Kopfjagd missbilligt oder sogar verboten haben? Die Kopfjagd war ein Ritual. Zum Eintritt ins Erwachsenenalter musste der Heranwachsende den Kopf nicht eines Feindes, sondern eines Fremden beibringen. Das vorkoloniale Polynesien war nicht das Paradies der Unschuld.
Gute Absichten aus Verblendung
Der besagte Kolonialismus soll hier nicht beschönigt werden. Wir sollten aber von der simplen Erklärung, Böses stamme immer aus Bosheit, Abstand nehmen. Sie trifft sehr selten zu. Zumeist entsteht Übles und Inhumanes aus guter, aber kurzsichtiger, verblendeter oder auch instrumentalisierter Absicht. Die Verblendung wird allerdings oft erst im Rückblick deutlich sichtbar. Dem haftet ein Element des Tragischen an. «Das Gegenteil von gut ist – gut gemeint» (Odo Marquard). Haben wir das nicht soeben wieder an Afghanistan erfahren müssen?
Der «Spiegel» hat 2007 eine Bilanz des europäischen Kolonialismus in Afrika gezogen. Resultat: Wirtschaftlich hat er sich nicht gelohnt. Er schloss defizitär. Aber die beiden afrikanischen Staaten, die nie eine Kolonie waren, nämlich Liberia und Äthiopien, stehen heute in jeder Hinsicht schlechter da als die, die einst Kolonien waren.
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Richard Schröder, Philosoph und evangelischer Theologe, ist emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war in der letzten, frei gewählten DDR-Volkskammer Fraktionsvorsitzender der SPD, von 2003 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung und ist Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss.