Skip to main content
For a different development policy!

Beitrag vom 25.07.2019

Africa Positive

Felwine Sarr, Afrotopia: Afrikas Gesellschaften sollen sich neu erfinden

von Rainer Gruszczynski

Als Felwine Sarrs Afrotopia Januar 2019 in deutscher Ausgabe erschien, haben viele überregionale Zeitungen darauf sehr positiv reagiert. Mit Recht! Denn der senegalesische Ökonom und Philosoph ist nicht nur ein international anerkannter Theoretiker des Postkolonialismus, der in seinem Buch entschieden dafür plädiert, dass Afrika sich aus der geistigen und wirtschaftlichen Umklammerung durch den Westen befreit. Er fordert darin seinen Kontinent auch ebenso entschieden dazu auf, seinen eigenen Weg zu finden, den Herausforderungen der Moderne zu begegnen. Und das vor allem aus eigener Kraft! Bevor Sarr aber eine „aktive Utopie“ für Afrika entwirft, betreibt er in seinem Essay erst einmal die Fortsetzung des Projektes Dekolonisation des Denkens, die der kenianische Schriftsteller Ng?g? wa Thiong’o in einem Buch gleichen Titels schon 1986 leidenschaftlich für den Kontinent eingefordert hatte.

Sarrs Rückgriff auf Ng?g? wa Thiong’o

Ng?g? verfolgt darin in erster Linie das Anliegen, den Gebrauch von Sprachen der ehemaligen Kolonialherren in Literatur, Bildungsinstitutionen, aber auch in der Öffentlichkeit zurückzudrängen; stattdessen sollen tradierte afrikanische Sprachen in diesen gesellschaftlichen Feldern ausdrücklich gepflegt und gefördert werden, mithin auch ein stärkeres Gewicht im täglichen Leben von Afrikanern erhalten. Diesen Fokus setzt Ng?g? nicht nur als afrikanischer Schriftsteller, der tradierte afrikanische Sprachen in ihrer Funktion als Kommunikationsmittel stärken möchte. Er will sie vor allem auch als Träger einer besonderen Kultur würdigen und fördern, die das Bewusstsein der Sprechenden und ihren Umgang miteinander ausdrückt und formt und ihnen dabei gleichsam beiläufig einen Zugang zu ihrer kulturellen DNA bahnt.

Sarr macht sich in Afrotopia Ng?g?s Anliegen ausdrücklich zu eigen. Er will aber darüber hinausgehen. Auch Wirtschaft, Wissenschaft, Regierung und Verwaltung möchte er auf umfassende Weise von westlichen Einflüssen befreien und das Verhalten in diesen Institutionen ebenso umfassend von Werten bestimmen lassen, die in der Tradition der Afrikaner ihren Ursprung haben. Sein Projekt soll die „eigene Soziokultur zum Ausgangspunkt“ haben „und aus ihrem eigenen mythologischen Universum, ihrer eigenen Weltsicht“ hervorgehen. – Selbst die „erkenntnis-theoretische Entfremdung“ der Forscher in Afrika will Sarr dabei überwinden und damit der „Hegemonie westlicher Denktraditionen“ ein Ende setzen. Gleichwohl plädiert er für eine „selektive Eingemeindung“ von ursprünglich fremden Praktiken und Institutionen, sofern sie mit afrikanischen Werten kompatibel sind.

Selbstbestimmtes Handeln durch ein positives Selbstbild der Afrikaner

Bei all dem geht es Sarr nicht nur um eine Emanzipation des Kontinents vom
Westen, sondern um einen Gegenentwurf zur globalisierten, vom westlichen Denken
bestimmten Wirtschaft und ihrer nationalen und internationalen Institutionen sowie
namentlich um die „Entmystifizierung Europas“. Darüber hinaus will er Afrikanern
eine Alternative bieten zum westlichen „Fortschrittsmythos“, zu Konsumismus und
Wachstumswahn eines entfesselten Kapitalismus. Insbesondere der im westlichen
Modell herrschenden bloß instrumentell-mechanistischen Vernunft in Gesellschaft,
Wirtschaft und Wissenschaft steht er ablehnend gegenüber. Denn dort bleibe die
Sinnfrage, deren Beantwortung jedoch alles Handeln rechtfertigen müsse,
unbeantwortet. Und deshalb sei diese Art von Vernunft gefährlich für Afrika und die
Welt. Sie müsse daher um eine spirituelle Dimension erweitert werden, damit
afrikanische Gesellschaften „zu ihrem ursprünglichen Sinn“ zurückfinden können,
„der in der Bestimmung angemessener Zwecke besteht.“

Sarr steht mit solchen Gedanken in einer Reihe mit Frantz Fanon, seinem großen
Vorbild, der den durch Kolonialismus und Sklaverei gedemütigten und psychisch
deformierten Afrikanern ihr Menschsein zurückgeben wollte und nicht zuletzt aus
diesem Grunde die befreiten Kolonialstaaten aufforderte, sich neu zu erfinden, statt
sich in „fratzenhafte(r) und obszöne(r) Nachahmung“ zu erschöpfen. Die Kritik, die in
dieser Aufforderung steckt, wurde auch in der afrikanischen Belletristik schon vor
Beginn der Unabhängigkeit afrikanischer Länder verfolgt, z.B. von Chinua Achebe,
oder danach vom Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka. Und neben anderen
gegenwärtigen Schriftstellern hat der im Mai dieses Jahres verstorbene Binyavanga
Wainaina aus Kenia sich ebenfalls dieses Themas angenommen. Dass afrikanische
Machthaber das von ihnen einst kritisierte Verhalten und den Lebensstil sogleich von
ihren ehemaligen Kolonialherren übernommen haben und dass sie diese „Tradition“
bis in die Gegenwart fortführen, nährt diese Kritik auch heute noch zusätzlich.

An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass Sarrs Ansatz mit Emanzipation und
Abgrenzung noch nicht hinreichend beschrieben ist. Denn mit dem Bezug auf Frantz
Fanon und dessen Verdammung der Imitation des Westens wird zugleich deutlich,
dass all das, was Sarr in sein Bild von Afrotopia einwebt, überwölbt wird von dem
Ziel, Afrikanern zu einem positiven Selbstbild zu verhelfen und die „Subalternität
hinter sich (zu) lassen“. Es sei das daraus erwachsende Selbstbewusstsein, was es
ihnen ermöglichen werde, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, ihren
Kontinent in eigener Verantwortung aufzubauen sowie sich gleichberechtigt an der
„Entwicklung der Menschheit“ zu beteiligen.

Drei kritische Hinweise

Das bis hierher Geschilderte macht deutlich, dass Sarr mit Afrotopia versucht, ein
sehr weitreichendes und ehrgeiziges gesellschaftlich-zivilisatorisches Projekt
anzustoßen, mit dem auseinanderzusetzen sich wirklich lohnt. Trotz der vielen
Denkanstöße, die er gibt, darf aber nicht übersehen werden, dass einige wichtige
Aspekte seines „Möglichkeitstraumes“ durchaus zu hinterfragen sind. Nur drei davon
möchte ich herausgreifen:

1. Zweifellos ist es nachvollziehbar, wenn Sarr
dem „Wiederaufbau der eigenen psychischen
Infrastruktur“ der Afrikaner Priorität einräumt,
nachdem diese Sklaverei und Kolonialismus
erlitten haben. Nachvollziehbar ist es auch, wenn
er sagt, „man muss sich selbst als eigenes
Epizentrum wiederherstellen“. Beides ist im
Prozess der Gesundung der Psyche eines
Individuums, aber auch der eines Landes oder
Kontinentes hilfreich, ja notwendig. Dazu passt
auch, dass Sarr hervorhebt, der „wirkliche
Fortschritt“ bei der Annäherung an seinen
Zukunftsentwurf könne nur erzielt werden, wenn
sich die Akteure der „Erinnerungsarbeit“, der
„Arbeit an der Geschichte und an der Versöhnung
mit den vielfältigen Quellen der eigenen Identität“
stellen. Wenn er dann aber ins Detail geht, nimmt
er fast ausschließlich die Sonnenseiten
afrikanischer Geschichte in den Blick: das
„goldene Jahrtausend“ (Fauvelle) vor Kolonisation und Sklavenhandel einerseits
sowie andererseits die Kämpfe gegen Rassismus und Kolonialismus. Zur Wahrheit,
die er dabei unterschlägt, gehört leider auch die Tatsache, dass afrikanische Führer
zur Zeit des Sklavenhandels kräftig daran mitgewirkt und mitverdient haben.
Mit solcher einseitigen Pflege positiver Erinnerungen verfolgt Sarr zwar das
lobenswerte Ziel, „den afrikanischen Menschen als Produzent(en) von Kultur und
Zivilisation“ zu würdigen. Dennoch könnte es sich als unklug erweisen, wenn er die
Schattenseiten afrikanischer Geschichte ausblendet oder allenfalls streift. Denn dann
verspielt er die Chance, sie gesellschaftlich und politisch aufzuarbeiten. Und damit
beschwört er die Gefahr herauf, dass sie im kollektiven Gedächtnis weiter virulent
sind und irgendwann in gesellschaftlich-politischer Praxis erneut oder auch „nur“
zusätzlich an Zerstörungskraft gewinnen und die sich entwickelnde Zukunft stören
und deformieren. Wole Soyinka hat schon 1999 in seinem Buch über „Die Last des
Erinnerns“ auf Zusammenhänge dieser Art sehr eindrucksvoll hingewiesen.

2. Zu den von Sarr stark vernachlässigten oder verharmlosten Schattenseiten
der jüngeren afrikanischen Geschichte gehört auch das bereits erwähnte Versagen
der afrikanischen Eliten seit Beginn der Unabhängigkeit. Mit Blick auf die Zukunft
sollte man aber durchaus in Erinnerung behalten, dass sich eine stattliche Anzahl
afrikanischer Staatsführer seitdem in einem Riesenumfang auf betrügerische Weise
zu Lasten ihrer Bevölkerungen bereichert hat - vor allem im Zuge des Ausverkaufs
von Ressourcen des Kontinents sowie an Entwicklungshilfezuwendungen. Wenn
Sarr solches jedoch übergeht, vernachlässigt er zugleich den Umstand, dass diese
vielen Kleptokraten die Verantwortung tragen für das Elend, an dem eine große
Mehrheit der Afrikaner heute zu tragen hat. Neben Armut sind hier Willkür, Gewalt,
Kriege und Flucht zu nennen. In diesem Kontext schon könnten Sarrs Leser
bemerken, dass viele afrikanische Führer der Gegenwart nur Krokodilstränen
weinen, wenn sie die Skrupellosigkeit von Sklavenhändlern und Kolonisatoren
anprangern, mit der diese Leid über afrikanische Menschen gebracht haben Das
Eliteversagen deutlich zu geißeln ist auch deswegen unerlässlich, weil es zu einem
Großteil strukturell-systemisch bedingt ist. Insbesondere deswegen, weil afrikanische
Bürger heute zwar über Korruption und Betrug ihrer Führer klagen, gleichzeitig aber
von Klientelismus, Nepotismus und Alimentationspflicht der Besitzenden profitieren
wollen. Diese Phänomene haben eine lange Tradition in Afrika. Und weil sie die
Selbstbereicherung sowie die daraus folgende Verelendung der Gesellschaft
begünstigen, bilden sie zudem ungewollt die Schatten der ansonsten von Sarr zu
Recht gelobten Solidaritätsnetzwerke. Vor allem aber dienen Klientelismus,
Patronage und Alimentationspflicht den afrikanischen Führern als Legitimationsgrundlage
für Bereicherung durch Korruption und Betrug. Deswegen haben sie in
mehr als 50 Jahren Unabhängigkeit und Verantwortung auch nur selten den Versuch
unternommen, diese Phänomene zu bekämpfen. „Korruption ist Teil der
afrikanischen Kultur“, so Jacob Zuma vor seinem Abgang als Präsident.
Statt all dies deutlich zu benennen, schildert Sarr in seinem Buch wiederholt – und zu
Recht! - die „Plünderung“ der Ressourcen sowie die „wirtschaftliche Rekolonisierung
der Länder durch ihre ehemaligen Kolonialmächte“, um dann aber nur sehr kurz zu
verweisen auf die „Rolle, die eine mangelhafte nachkoloniale Regierungsführung
sowie die schlechten Entscheidungen afrikanischer Machthaber gespielt haben.“
Wenn er dann verneint, dass er mit dieser doch unausgewogenen Schuldzuweisung
keineswegs beabsichtigt, „der eigenen Verantwortung auszuweichen“ und an
anderer Stelle - entschuldigend - erwähnt, dass „manche“ Staatsführer in Afrika
gescheitert seien, „weil sie die Reichtümer ihres Landes zum Vorteil des eigenen
Clans geplündert haben“… und wenn er fünf Seiten weiter noch die afrikanischen
Zivilgesellschaften indirekt für die schlechte Regierungsführung mit in Haftung nimmt,
indem er suggeriert, dass den Politikern „womöglich“ „geholfen wäre“, wenn diese
bürgerlichen Kontrollorgane „ein deutlicheres Bewusstsein dessen“ an den Tag
legten, was mit den politischen Entscheidungen auf dem Spiel steht …. ja, dann ist
nicht auszuschließen, dass er, ungewollt zwar, aber dennoch genau das Denken
bedient, was in die afrikanische Misere geführt hat.

3. Ein weiterer blinder Fleck zeigt sich in Sarrs Empfehlung an die Afrikaner, auf
Familienplanung und Geburtenregelung zu verzichten, damit die „demographischen
Verluste“, die Afrika durch die Sklaverei entstanden sind, ausgeglichen werden
können. So eine Aussage ist in unseren Tagen kaum auszuhalten Und zwar
deswegen nicht, weil die afrikanischen Länder bis heute offensichtlich nicht einmal in
der Lage sind, der großen Mehrheit der Bevölkerung eine lohnenswerte Perspektive
zu bieten oder auch nur deren Grundversorgung zu garantieren. Die Rede ist hier
von Nahrung, Bildung, Gesundheit, Arbeitsplätzen und einem gewissen Wohlstand.
Die Wirtschaft wächst zwar in den meisten Ländern Afrikas, aber infolge der
Bevölkerungszunahme wachsen dort nur selten Pro-Kopf-Einkommen und
Lebensqualität merklich mit – weder der private Pro-Kopf-Konsum noch die
öffentlichen Dienstleistungen. Solange jedes Jahr aus diesem Grunde Millionen von
Afrikanern ihren Kontinent verlassen wollen, oder anders gesagt: solange
afrikanische Länder die Fluchtwilligen nicht halten wollen, sie zum Teil sogar zur
Flucht ermuntern, sodass die Sehnsuchtsländer die Folgen afrikanischer
Bevölkerungspolitik tragen müssen – solange ist Sarrs Empfehlung unverantwortlich.
Damit sollen die „demographischen Verluste“ keineswegs kleingeredet werden. Aber
angesichts einer Verdoppelung der heutigen Population in Afrika auf 2 Milliarden
Menschen, die die UN bis 2050 erwarten, und angesichts eines Anwachsens der
Weltbevölkerung bis dahin auf rund 10 Milliarden Menschen ist ein Umdenken
zwingend notwendig. Denn die Menschen erwarten auch in Zukunft überall zu Recht,
dass zumindest ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden, aber auch, dass sie eine
wirtschaftlich und politisch attraktive Perspektive haben und dass sie unseren Planeten trotz ihres
ökologischen Fußabdrucks auch in 30 Jahren noch gern bewohnen. Im Übrigen ist festzuhalten: Am Bevölkerungswachstum könnte eine gelungene Annäherung an Afrotopia scheitern, denn die vielen
neugeborenen Menschen müssten sehr bald schon mit allem Nötigen versorgt werden, damit sie so produktiv sein könnten, dass dieses Ziel auch zu verwirklichen ist. D.h., die materielltechnische, die wirtschaftliche, die politische und eine gute soziale Infrastruktur, die Sarrs Zukunftsentwurf auszeichnen sollen, müssten schon vorhanden sein, bevor z.B. Traumprojekte wie seine Zukunftsstadt überhaupt entstehen können.

FAZIT:

Die vorgebrachten und weitere, bisher nicht genannte Einwände sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass Felwine Sarr mit Afrotopia einen beeindruckenden Versuch unternimmt, Hoffnungen auf seinem Heimatkontinent zu wecken, dort Erwartungen zu formen und, wenn es sehr gut läuft, produktiven Entscheidungen eine Richtung zu geben. Es wäre ihm zu wünschen, dass er dort die für sein Projekt
nötige Aufbruchsstimmung erzeugt, indem er Afrikanern Mut macht, die Gestaltung
ihrer Zukunft selbst anzupacken, statt auf Hilfe von außen zu warten. Damit wäre
auch eine wichtige Botschaft logisch verbunden, die Sarr in seinem Essay zwar
unerwähnt lässt, jedoch in verschiedenen Zeitungsinterviews bekundet hat: Die
Entwicklungshilfe müsste in Afrika zum Auslaufmodell erklärt werden! Diese
Botschaft allein schon rechtfertigt das Buch. Denn mit dem Verzicht auf
Entwicklungshilfe würde dort Korruption und Betrug in erheblichen Maße Treibstoff
entzogen. Sodass die Chancen auf eine gute Regierungsführung und in der Folge
auch die zur Verwirklichung von Sarrs „Möglichkeitstraum“ deutlich ansteigen
könnten. Ein Selbstläufer wäre Sarrs Projekt aber auch dann noch nicht. Nicht nur,
weil es sehr umfassend und ehrgeizig angelegt ist. Heftige Widerstände könnten vor
allem sehr schnell aus der eigenen Bevölkerung kommen, die ihre Konsumträume
eben nicht einfach mal aufgibt, um einer kapitalistischen Entfremdung zu
entkommen. Schon hier könnte sich zeigen, wie Ursula Menzer im Deutschlandfunk
zu bedenken gegeben hat, „ob dieses Konzept einen zukunftsweisenden Weg oder
eine idealistische, letztlich rückwärtsgewandte Utopie formuliert“.