Skip to main content
For a different development policy!

Beitrag vom 03.08.2018

Der Spiegel

Äthiopien

Ein afrikanisches Märchen

Erst seit vier Monaten ist Premier Abiy Ahmed im Amt, aber schon jetzt wird der Mann, der sein Land in Rekordgeschwindigkeit verändert, verehrt wie ein Heiliger.

von Bartholomäus Grill

Erst dachte Luwam Gebreyesus an eine Erscheinung. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Mutter tatsächlich auf sie zukam. Auch die Mutter schien kurz zu zweifeln. War es wirklich wahr, was da am Samstag vor zwei Wochen am Flughafen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba geschah? Lelem, die Mutter, ging unsicher vom Ausgang des Terminals auf ihre Tochter zu. Im nächsten Moment fielen sich beide in die Arme, hielten sich fest umklammert, weinten minutenlag.

Drei Jahre lang hatten sie sich nicht mehr gesehen und gesprochen. Die Mutter lebt in Eritrea, die Tochter in Äthiopien, rund 700 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, getrennt durch die schier unüberwindliche Grenze zwischen zwei zu Tode verfeindeten Staaten.

Mutter Lelem, 45, hält vier rote Rosen in der Hand, die ihr die Tochter gegeben hat. Sie wischt sich die Tränen aus den Augen. Morgen wird sie auch ihren nach Äthiopien geflohenen Vater treffen, zum ersten Mal nach 27 Jahren.

Sie sagt: »Gott segne Abiy, er hat unsere Familie wiedervereinigt.«

Abiy Ahmed ist der neue äthiopische Premierminister, den seine Landsleute schon jetzt verehren wie einen lange ersehnten Heilsbringer, denn ihm ist etwas schier Unmögliches gelungen. Er hat Frieden mit dem Nachbarland Eritrea geschlossen und den gegenseitigen Hass überwunden, der die beiden hochgerüsteten Staaten seit dem Krieg um einen staubigen Landstrich trennte, bei dem zwischen 1998 und 2000 nahezu 100 000 Menschen getötet wurden.

»Ich war 18, als ich zweien meiner älteren Geschwister folgte und vor dem Militärdienst hierher nach Äthiopien geflohen bin«, sagt Luwam. Der zeitlich unbegrenzte Dienst in Eritrea treibt seit Jahren Zehntausende junge Frauen und Männer aus dem diktatorisch regierten Land, das oft »Nordkorea Afrikas« genannt wird. »Jetzt komme ich mir vor wie in einem Märchen.«

Ein Märchen, das sie Abiy Ahmed zu verdanken hat. Er ist erst seit vier Monaten im Amt, aber in dieser kurzen Zeit reichte er nicht nur dem eritreischen Gewaltherrscher Isaias Afwerki die Hand zur Versöhnung, sondern stellte auch sein eigenes Land auf den Kopf. Abiy hob den Ausnahmezustand auf und entließ Tausende politische Gefangene. Er brachte ein Amnestiegesetz auf den Weg und entschuldigte sich für Menschenrechtsverletzungen, die staatliche Sicherheitsorgane begangen hatten. Er kündigt die Privatisierung von Staatskonzernen an, verspricht radikale demokratische Reformen.
»Nun geschieht in ein paar Wochen, was in Jahrzehnten nicht geschehen ist«, kommentiert eine Zeitung: freie Presse, freie Rede, freier Geist. Überall in Addis Abeba lächelt der neue Premier von großen Plakaten, Neugeborene werden nach ihm benannt, Taxifahrer haben sein Porträt auf die Windschutzscheibe geklebt, gleich neben dem Drachentöter Sankt Georg, dem nationalen Schutzpatron.

Aber wer ist dieser Mann mit dem Geografielehrerbart, den vor seiner Machtübernahme kaum jemand kannte? Der wie ein Komet aufstieg und mit 41 Jahren nun an der Spitze der Regierung steht?
Abiy Ahmed ist vor allem ein großer Versöhner, der viel von Frieden, Liebe und Vergebung redet. Solche Worte hörte man bisher in Äthiopien nur in orthodoxen Kirchen und nicht von einem Politiker. Aber Abiy, Sohn eines Muslims und einer Christin, wird wie ein spiritueller Führer wahrgenommen. Man traut ihm zu, die religiösen und ethnischen Spannungen im Vielvölkerstaat Äthiopien zu überwinden und das in weiten Teilen rückständige Land zu modernisieren.

Der Premier hat Informatik und Betriebswirtschaft studiert und einen Doktortitel; in seiner Dissertation untersuchte er Lösungen für konfessionelle Konflikte. Andererseits war Abiy nicht nur Friedensforscher, sondern auch ein diensteifriger Soldat, der es in der Armee bis zum Rang eines Oberstleutnants gebracht hat. Er war als Uno-Blauhelm nach dem Völkermord in Ruanda im Einsatz, kämpfte im Grenzkrieg gegen Eritrea mit und baute einen Nachrichtendienst auf, der die elektronischen Medien überwachte und Informationen über Dissidenten sammelte.

Später arbeitete er sich in den Führungszirkeln des diktatorisch herrschenden Regierungsbündnisses EPRDF hoch, zielstrebig und scheinbar linientreu. Diese Allianz wird seit 27 Jahren von Veteranen aus dem Volk der Tigray dominiert, ihre Rebellenarmee hatte 1991 den kommunistischen Despoten Mengistu gestürzt.

Offenbar hatte keiner der Hardliner damit gerechnet, dass Abiy im vergangenen Frühjahr das Rennen um den Parteivorsitz machen und damit Regierungschef werden würde – als erster Vertreter des marginalisierten Mehrheitsvolkes der Oromo. Es war eine Sensation, die nur durch glückliche Umstände möglich wurde.

Denn als der schwache und erfolglose Premier Hailemariam Desalegn im Februar sein Amt aufgab, eröffneten sich für Abiy unverhofft Chancen auf dessen Nachfolge: Ein aussichtsreicher Konkurrent musste seine Kandidatur zurückziehen, weil er nicht Mitglied des Parlaments war. Ein zweiter Gegenkandidat stieg am 27. März aus, nur wenige Stunden ehe das Präsidium der EPRDF zusammentrat, um einen neuen Vorsitzenden zu bestimmen. Um Mitternacht desselben Tages hatte Abiy die Wahl gewonnen. Fünf Tage später wurde er als Premierminister vereidigt. Seither müssen die alten Parteikader entsetzt zusehen, wie er in atemberaubendem Tempo das Land umkrempelt.

»Wir lieben ihn«, schwärmt Kefale Kebede, 26, ein Sportstudent, der in einem himmelblauen Trikot von Manchester City steckt. Er ist stolz darauf, dass nun ein Oromo regiert, ein Mann aus seinem bislang benachteiligten Volk, »der unsere zerrissene Nation eint«. Kefale ist über Nacht zum Patrioten geworden. Er sitzt nun stundenlang mit seinen Kommilitonen in einem abgedunkelten Fernsehsaal der Universität von Addis Abeba, um keine Nachricht zu versäumen.

Wenn Abiy ins Bild kommt, tanzen und singen alle. In einer Endlosschleife werden die Fernsehbilder wiederholt: wie Abiy die Hand des knochensteifen Autokraten Eritreas hält. Wie er die Massen mit seinen Reden verzückt. Wie er öffentlich Empathie zeigt. Der Premier ist jung, er hat Charisma, er strahlt heitere Zuversicht aus, das ist bei den verschlossenen Äthiopiern ziemlich ungewöhnlich. Sie vergleichen ihn schon mit Barack Obama.

»Erst der Rote Terror unter Mengistu, dann 27 Jahre Diktatur unter Meles Zenawi und seinem Nachfolger – solange ich denken kann, habe ich nur Unterdrückung erlebt«, sagt Getaneh Balcha. »Aber jetzt beginnt eine echte Revolution.«

Der 36 Jahre alte Oppositionspolitiker der liberalen Blauen Partei hat irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft er eingesperrt wurde, mehr als zehnmal müssen es gewesen sein. Es war stets der gleiche Ablauf: unerlaubte Demonstration, Verhaftung, dann Prügel von Polizisten und Geheimdienstleuten, immer wieder.

Manchmal saß Getaneh drei Wochen lang hinter Gittern, manchmal nur ein paar Tage. »Das Regime wollte uns einschüchtern, damit wir nie mehr auf die Straße gehen.« Aber Getaneh protestierte weiter – bis Abiy Anfang April an die Macht kam und eine historische Wende einleitete, die in Afrika ihresgleichen sucht. Wenn Getaneh davon erzählt, wirkt er noch immer wie ein staunender Junge: »Die Angst ist vorbei, wir können zum ersten Mal frei atmen in Äthiopien.« Auch seine anfänglichen Zweifel, ob dieses Wunder wirklich anhalten könne, sind verflogen. »Diese Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar, denn hundert Millionen Äthiopier stehen hinter Abiy. Sein Sturz würde einen Volksaufstand auslösen.«

Zeitweise erinnert die kollektive Euphorie an den Freudentaumel nach dem Fall der Berliner Mauer. Wie einst in der DDR gab es auch in Äthiopien ein flächendeckendes Spitzelwesen, das in der Ära Mengistu mit sozialistischer Bruderhilfe der Stasi aufgebaut wurde.

Anders als beim Mauerfall wird der epochale Wandel in Äthiopien im Ausland bisher kaum wahrgenommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zwar ihrem neuen Amtskollegen gratuliert, aber ansonsten zeigt sie wie die meisten europäischen Regierungschefs wenig Interesse an den Ereignissen am Horn von Afrika. Dabei könnte die Zeitenwende unter Abiy ein Fanal für den Kontinent werden. Es sieht nämlich so aus, als strebe er eine liberale Demokratie und eine freie Marktwirtschaft an, anstatt wie einige afrikanische Staaten dem chinesischen Modell einer Entwicklungsdiktatur nachzueifern. Abiy bietet dem Westen eine neue Chance, sich in Äthiopien zu engagieren.

Am Arat Kilo, einem Verkehrskreisel in der Nähe des Parlaments, reißen sich junge Männer druckfrische Zeitungen aus der Hand. Sie lesen und debattieren, warten gespannt auf die nächsten Reformschritte der Regierung. Doch es gibt auch solche, die dem Frieden nicht so recht trauen.
»Das Führungspersonal wurde ausgewechselt, aber das alte System ist noch da«, sagt ein Student. Im selben Moment geht ein Polizist vorbei und drischt mit seinem Knüppel auf einen Bettler ein. »Genau davon rede ich«, sagt der Student.

Ende Juni starben bei einem Granatenangriff auf einer Kundgebung des Premierministers zwei Menschen. Vergangene Woche wurde der Chefingenieur des Staudammbaus am Blauen Nil erschossen in seinem Auto aufgefunden. Und in einigen Regionen des Landes bekämpfen sich rivalisierende Volksgruppen. Aufgrund solcher Vorfälle warnt auch Beyene Petros vor überschwänglichem Optimismus: »Die ehemaligen Machthaber lehnen den Umbruch ab, denn sie haben viel zu verlieren.«
Beyene ist ein eleganter Herr von 68 Jahren, er gehört zum politischen Urgestein Äthiopiens. Vor vielen Jahren war er stellvertretender Bildungsminister, heute führt er das stärkste Oppositionsbündnis im Lande an. Hinter den Kulissen gehe es zwar drunter und drüber, sagt Beyene, aber einen Staatsstreich hält er für unwahrscheinlich. »Abiy ist ein Mann des Militärs, ein Kommandeur, er weiß sehr genau, wer einen Putsch anzetteln könnte.« Deswegen habe er vorsorglich Generäle und Topleute des Sicherheitsapparats entlassen, die ihm hätten gefährlich werden können.

»Er agiert wie ein Gorbatschow, aber vielleicht steckt auch ein bisschen Putin in ihm«, warnt er. Denn man dürfe nicht vergessen, dass Abiy ein Regime anführe, das die Bevölkerung jahrzehntelang terrorisiert habe. »Dafür hat er sich zwar entschuldigt, aber er lässt nicht den geringsten Zweifel daran, dass er der Chef dieses Regimes ist. Er wird vermutlich hart durchgreifen, wenn es darauf ankommt.«

Durch seinen fulminanten Start hat Abiy Ahmed enorme Erwartungen geweckt. Er wird vor allem daran gemessen werden, ob er die Zentrifugalkräfte in einer Nation mit mehr als 80 Volksgruppen bändigen kann, die seit den Eroberungskriegen im 19. Jahrhundert mit Gewalt zusammengehalten wird. Zugleich hängt sein Erfolg davon ab, ob er den wirtschaftlichen Aufschwung fortsetzen kann.
Äthiopien zählt nach wie vor zu den ärmeren Staaten Afrikas, obwohl es seit einem Jahrzehnt die höchsten Wachstumsraten des Kontinents verzeichnet. Das nach Nigeria bevölkerungsreichste Land Afrikas hat in China einen starken Partner, der Milliarden in seine Infrastruktur investiert. Staudämme, Straßen und Schienenwege werden gebaut, in den größeren Städten entstehen Industrieparks, in denen mittlerweile Fertigwaren und Textilien preiswerter produziert werden als in asiatischen Billiglohnländern.

Das äthiopische Wirtschaftswunder lässt sich am besten in Addis Abeba besichtigen. Hier wird rund um die Uhr gehämmert, gesägt und betoniert. Hochhäuser, Bürogebäude und Banken schießen aus dem Boden, eine moderne Hochbahn wurde in Betrieb genommen, die Stadt erstickt in Verkehrsstaus. Und zwischen den nagelneuen Fabrikhallen in der Peripherie wachsen riesige Wohnviertel.

Auch Bethlehem Tilahun wird demnächst eine neue Produktionsstätte einweihen. In High Heels stakst die 39-jährige Unternehmerin durch den Rohbau, in dem 300 neue Mitarbeiter beschäftigt werden sollen. Ihre Firma SoleRebels stellt Schuhe aus recycelten Materialien her, die in zwölf Länder exportiert werden. Ende August will sie eine Filiale in Hamburg eröffnen. Bethlehem hat sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet, schon 2012 wurde sie in die »Forbes«-Liste der 100 erfolgreichsten Frauen der Welt aufgenommen.

»Wir warten jetzt auf einen soliden Wirtschaftsplan von Premierminister Abiy«, sagt sie, »denn wir brauchen Jobs, Jobs und noch einmal Jobs.« Nur so könne sich ihr Land aus der Armut befreien und Stabilität gewinnen. 70 Prozent der 105 Millionen Äthiopier sind unter 30 Jahre alt, geschätzte 40 Millionen junge Leute haben keine Arbeit und kein regelmäßiges Einkommen. Bethlehem zahlt ihren Mitarbeitern das Vierfache des Durchschnittslohns. Entwicklungshilfe lehnt sie ab. »Sie bewirkt nichts und lähmt nur Eigeninitiative. Wir brauchen keine Hilfsorganisationen, sondern Investoren«, betont sie. »Ich hoffe, dass der Westen das wirtschaftliche Potenzial Äthiopiens endlich erkennt.«

Vergangene Woche flog Abiy Ahmed in die USA, um bei der äthiopischen Diaspora um Unterstützung für den Neubeginn zu werben. Er wünscht sich, dass sie in ihr Geburtsland zurückkehren und investieren. Zudem ließ er einen staatlichen Fonds gründen, in den Exiläthiopier eine Art Solidaritätsabgabe einzahlen können.

Kurz vor seiner Abreise wurde der Regierungschef gefragt, ob er auch US-Präsident Donald Trump treffen werde. Er antwortete mit einem kategorischen Nein. Er wolle ja seinem Image nicht schaden.

-------------------------------------------
Bartholomäus Grill, 63, wohnhaft in Kapstadt, ist seit 30 Jahren Afrikakorrespondent, seit 2013 schreibt er für den SPIEGEL. Er war afrikapolitischer Berater von Bundespräsident Horst Köhler und hat eine Reihe von Büchern über den Kontinent geschrieben, darunter den Bestseller "Ach, Afrika". Als Grill jetzt nach Äthiopien zurückkehrte, war er erstaunt über den epochalen Wandel unter dem neuen Premierminister Abiy Ahmed. »Er demokratisiert sein Land in einem atemberaubenden Tempo. Das könnte ein Fanal für ganz Afrika sein«, sagt Grill.