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Beitrag vom 02.07.2017

FAS

Eritrea

Im Einsatz für die Kinderherzen

Deutsche Ärzte operieren und heilen ehrenamtlich in Eritrea. Stabilisieren sie damit das dortige Unrechtsregime?

Von Thomas Scheen

Maria Steinke bahnt sich ihren Weg durch das Chaos aus leeren Kanistern, Pritschenbetten und überquellenden Reisetaschen. Die Kinderkrankenschwester aus Leipzig führt durch ihr temporäres Zuhause in Eritrea, einen 25 Quadratmeter großen Raum, der sonst als OP-Saal dient. Die junge Frau teilt sich die ungewöhnliche Unterkunft mit einem Arzt und zwei weiteren Krankenschwestern von der Uniklinik Leipzig. „Wir fanden das ganz praktisch.“ Manchmal gibt es sogar warmes Wasser zum Duschen. In der Mitte des Raums steht ein großer Tisch, der zum Kochen, Lesen und Essen dient, rundherum sind die Pritschen aufgebaut. Der Kinderarzt hat als einziger ein geschlossenes Moskitonetz. Steinke versäumt es nicht, auf das Ding hinzuweisen, und so, wie sie es tut, klingt es ein bisschen wie Weichei. Benjamin Ackermann grinst nur. Er kennt das schon.

Zwei Wochen im Jahr campieren die vier Ostdeutschen in dem OP-Saal und damit gewissermaßen an ihrer Arbeitsstelle. Sie opfern ihren Urlaub, um im Krankenhaus der eritreischen Stadt Barentu Geburtshilfe zu leisten, Neugeborene zu pflegen und eritreisches Personal an modernen Diagnosegeräten zu schulen, die sie praktischerweise gleich mitgebracht haben. Sie tragen Namensschilder in der Landessprache Tigrinya, damit die Eritreer sie nicht ständig als „Doctor“ ansprechen und es kollegial statt autoritär zugeht. „Wir wollen Wissen vermitteln und uns so irgendwann überflüssig machen“, sagt Benjamin Ackermann. Er ringt gerade in einem Untersuchungsraum nebenan mit einem Ultraschallgerät. Zehn angehende eritreische Ärzte und Schwestern schauen ihm über die Schulter, und das winzige Krankenzimmer erscheint so überfüllt, dass man glatt die wichtigste Person übersehen könnte. Nämlich den Säugling im Bett.

Die drei Leipziger und die Erfurterin sind ehrenamtlich für den gemeinnützigen Verein „Archemed – Ärzte für Kinder in Not“ tätig, eine Hilfsorganisation aus der westfälischen Provinz, die stolz ist auf ihre Hemdsärmeligkeit und Erstaunliches zuwege bringt. Zwischen 250 und 300 Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Physiotherapeuten, aber auch Handwerker und Techniker aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Italien und Dänemark reisen im Auftrag von Archemed jedes Jahr für einige Wochen nach Eritrea, um dort zu tun, was sie am besten können: Kinder heilen.

Insgesamt 30 Projekte hat der Verein in Eritrea ins Leben gerufen, von einer hochmodernen Kinderintensivstation in der Hauptstadt Asmara bis hin zu satellitengesteuerter Fernmedizin, die es einem Arzt in Deutschland erlaubt, mittels einer Videoverbindung in Echtzeit eine Diagnose in Eritrea zu stellen oder sogar bei Operationen zu assistieren. Daneben betreibt Archemed Waisenhäuser, Schulen und ein Programm, das sich „Esel für Witwen“ nennt. Ein Esel ist eine verlässliche Einkommensquelle, weil er das bevorzugte Transportmittel in Eritrea ist. Die meist mittellosen Witwen werden dank des Tiers zu Dienstleistern, die Waren zu den Märkten transportieren.

Gegründet wurde Archemed 2010 vom dem Soester Mediziner Peter Schwidtal, und wenn der Verein heute die effizienteste Hilfsorganisation in Eritrea ist, dann ist das vor allem sein Verdienst. „Doctor Peter“, wie er gerufen wird, akzeptiert schlichtweg kein Nein als Antwort. Das breite Leistungsspektrum des Hilfsvereins ist umso bemerkenswerter, als Eritrea für Ausländer das mit Abstand schwierigste Pflaster in Afrika ist. Das kleine Land trägt den wenig schmeichelhaften Beinamen „Nordkorea Afrikas“, wenngleich es in Eritrea nicht schlechter zugeht als in den Nachbarstaaten Äthiopien und Sudan. Das eritreische Regime duldet weder Meinungsfreiheit noch politische Opposition. Zudem wähnt sich das Land in einem permanenten Kriegszustand mit dem Nachbarn Äthiopien und pflegt eine paranoide Geheimnistuerei. Alles ist Staatsgeheimnis, und deshalb werden Ausländer nur ungern ins Land gelassen, weil sie ja Spione sein könnten.

Der sichtbarste Ausdruck dieses Erregungszustandes ist ein obligatorischer Militärdienst, der viele Jahre dauern kann. Dieser „National Service“ wiederum ist der Grund, warum unter den afrikanischen Flüchtlingen, die nach Europa drängen, überproportional viele Eritreer sind. Mehr als 17000 waren es im vergangenen Jahr, die allein in Deutschland um politisches Asyl baten. Die Anerkennungsquote liegt bei 93 Prozent, was in der öffentlichen Wahrnehmung dafür sorgt, dass Eritrea tatsächlich als die afrikanische Variante der nordkoreanischen Diktatur betrachtet wird.

Natürlich stellt sich auch für Archemed die Frage, ob die eigene Arbeit nicht dazu beiträgt, ein Regime zu stabilisieren, das wenig von Menschenrechten und gar nichts von Demokratie hält. Er sei ein Kollaborateur des Regimes, wurde Schwidtal einmal unterstellt. „Ich nehme das zur Kenntnis, aber das hält mich von nichts ab“, sagt er. Er ist Arzt, ihm geht es um Hilfe. „Sollen wir die Kinder verrecken lassen?“ Der Kinderarzt Matthias Röbbelen aus Mülheim beschreibt es so: „Was ich in Deutschland mache, ist doch nichts gegen das, was ich hier bewirken kann.“

Die selbstverordnete Isolation hat aus dem armen Eritrea ein bitterarmes Eritrea gemacht, das ironischerweise von den Flüchtlingen am Leben erhalten wird. Ihre Überweisungen an die Familien daheim sind der Grund, warum es in Eritrea keinen Hunger gibt. Zudem fordert der Staat von jedem Auslandseritreer eine Steuer von zwei Prozent seines Einkommens. Und obwohl sich Eritrea viel auf sein Gesundheitssystem zugutehält, reicht das Geld vorn und hinten nicht. Das Personal wird schlecht bezahlt, das Ausbildungsniveau der Ärzte lässt zu wünschen übrig, und Mittel für moderne medizinische Geräte gibt es nicht. Das ist die Bresche, die Archemed zu füllen versucht. Das beste Beispiel dafür ist das „International Operation Center for Children in Asmara“ – ein OP-Block mit Intensivstation, der keinen Vergleich mit einem deutschen Krankenhaus zu scheuen braucht.

Andreas Urban bietet an, einer Operation am offenen Herzen beizuwohnen. Die Patientin ist ein kleines Mädchen mit einem angeborenen Herzfehler, dessen Bezeichnung zu kompliziert ist, um sie sich merken zu können. Nein, danke. „Da ist nichts Fieses dran“, versichert Urban und erzählt von „fettigen, unansehnlichen Männerherzen“ und um wie viel ästhetischer doch ein Kinderherz sei. Man muss vermutlich Chirurg sein, um den Witz zu verstehen. Urban hat bis zu seiner Pensionierung das Deutsche Kinder-Herzzentrum in Sankt Augustin geleitet, eine der führenden Kliniken in Europa. Jetzt operiert er zweimal im Jahr für je zwei Wochen in Asmara. An diesem Tag hat er schon ein anderes Mädchen operiert. Keine zwei Jahre ist die Kleine alt, und wie sie da in ihrem Bett liegt, angeschlossen an dicke Schläuche und surrende Maschinen, sieht sie einfach nur erbarmungswürdig aus. Die Mutter hingegen strahlt. Urban stellt nüchtern fest: „Wir haben dem Kind nicht nur das Leben gerettet, wir haben ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.“

Dabei stand die Beziehung zwischen dem Starchirurgen und der Klinik in Eritrea zunächst unter keinem guten Stern. Als Urban auf Bitten Schwidtals im Jahr 2000 zum ersten Mal nach Asmara kam, war er schockiert von den hygienischen und medizinischen Zuständen. „Das war eine Katastrophe, da konnte ich nicht arbeiten.“ Schwidtal aber ließ nicht locker und entlockte der Regierung das Nutzungsrecht für ein leerstehendes, ehemaliges Lazarett auf dem Gelände des Krankenhauses von Asmara. Urban besorgte ausrangierte medizinische Geräte in Deutschland, und die Handwerker und Techniker von Archemed machten aus dem alten Lazarett einen OP-Block nach deutschem Standard. 2002 operierte Urban das erste Kind mit einem Herzfehler. Die Geschichte sprach sich herum, und Urban erhielt von einem privaten Spender „unanständig viel Geld“, mit dem er hochmoderne Geräte kaufen konnte.

Seither sieht das Operationszentrum aus wie eine westeuropäische Intensivstation. Neben deutschen Chirurgen und ihren OP-Mannschaften aus Anästhesisten, Assistenzärzten und OP-Schwestern operieren in Asmara inzwischen regelmäßig Teams aus Italien, der Schweiz, Österreich und Dänemark, die dafür wie die Deutschen ihren Urlaub opfern. Rund hundert Kinder mit angeborenen Herzfehlern werden jedes Jahr operiert. Die Überlebensrate liegt bei 98 Prozent. „Wir können uns mit den Besten der Welt messen“, sagt Schwidtal.

Der Arzt aus Soest kam 1995 zum ersten Mal nach Eritrea, damals noch unter dem Banner einer anderen Hilfsorganisation. Seither hat er sich mit höflicher Hartnäckigkeit ein phänomenales Netzwerk aufgebaut. Es gibt nicht viel, was die ewig misstrauische Regierung dem Facharzt aus Soest abschlägt. Termine bei Ministern bekommt Schwidtal nahezu sofort. Und wenn er den Präsidenten sehen will, der ihn aber nicht, greift Schwidtal zu einer List und bringt in Erfahrung, welche Baustelle der Mann gerade besonders häufig besucht und fährt einfach dahin. „Ich hätte nie geglaubt, was ich als kleiner Arzt aus der Provinz alles bewegen kann“, sagt Schwidtal. Dass der Arzt damit auch politischen Einfluss gewonnen hat, erwähnt er eher beiläufig. Der Besuch von Entwicklungsminister Gerd Müller von der CSU im verfemten Eritrea im Jahr 2015 war Schwidtals Idee. Dass die Bundesregierung sich seither ein bisschen mehr für Eritrea interessiert, rechnet er sich als Verdienst an. „Darauf bin ich stolz.“ Rund 800 Mitglieder zählt Archemed inzwischen. Das Budget des Vereins beläuft sich auf eine Million Euro, auch weil Archemed nach Müllers Besuch Zusagen seines Ministeriums erhielt.

Samson Abay geht schnell, redet schnell und denkt schnell. Der Arzt leitet die Kinderstation des Krankenhauses von Mendefera, einem Ort rund eine Autostunde südlich von Asmara. Das staatliche Mendefera Regional Hospital hat ein Einzugsgebiet von 800000 Menschen, und wer sich aus den entlegenen Dörfern auf den Weg in die Klinik macht, hat mitunter einen dreitägigen Ritt auf einem Eselsrücken vor sich. 2500 Kinder kommen im Durchschnitt jedes Jahr im Krankenhaus von Mendefera zur Welt, und es sind meist die komplizierten Fälle, denn wenn die Schwangerschaft problemlos verlaufen wäre, hätten die Frauen zu Hause entbunden. Abay hat es trotzdem geschafft, die Kindersterblichkeit von 92 Fällen im Jahr 2008 auf 25 im vergangenen Jahr zu senken, obwohl er weder mehr Geld vom Gesundheitsministerium bekommen hat noch mehr Personal. Er hat vielmehr auf Archemed gehört und das Angebot des Vereins angenommen, seine Krankenschwestern und seine jungen Ärzte von deutschen Kollegen mehrmals im Jahr schulen zu lassen.

Seither arbeitet die Pädiatrie in Mendefera mit standardisierten Behandlungsprotokollen, womit die Arbeitsabläufe der Krankenschwestern vereinfacht wurden, ihre Produktivität stieg und Notfälle schneller diagnostiziert werden können. „Alles ohne Mehrkosten für das Gesundheitsministerium“, sagt der Arzt. Mit diesem Argument im Rücken hat er sich auch gegen die von der Regierung verordnete Rotation des Krankenhauspersonals gestemmt, weil er Fachpersonal halten will, und das Gesundheitsministerium hat tatsächlich eingelenkt. „Die Zusammenarbeit mit Archemed hat bewiesen, wozu wir in Eritrea in der Lage sind, wenn wir fachliche Unterstützung erhalten. Danach hatten die in Asmara keine Argumente mehr“, erinnert er sich.

Doch gegen eines kommt auch der umtriebige Samson Abay nicht an: den Drang zur Flucht, der allen Eritreern innezuwohnen scheint. Eine Krankenschwester verdient in Eritrea zwischen 40 und 50 Euro, ein Arzt kommt auf 200 Euro. Selbst im benachbarten Sudan wird qualifiziertem Personal ein ganz anderes Gehalt gezahlt, von Saudi-Arabien ganz zu schweigen. Hinzu kommt die dumpfe Grundstimmung in einem Land, dessen Führung sich in kriegerischen Durchhalteparolen ergeht und der Jugend vorschreibt, welchen Beruf sie dereinst ergreifen darf.