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Beitrag vom 13.05.2016

Tagesanzeiger, Zürich

Geschwächt, aber nicht besiegt

Die tödlichste Terrormiliz der Welt ist in den Busch zurückgedrängt worden. Dennoch gelingt es Boko Haram noch immer, Kämpfer und Selbstmordattentäter zu rekrutieren.

Johannes Dieterich Johannesburg

Mehr als ein halbes Jahr hatte er sich Zeit genommen, sein Kabinett zu besetzen, selbst das Budget des bevölkerungsreichsten afrikanischen Staates wurde erst mit wochenlanger Verspätung vorgelegt. Nun scheint Nigerias Präsident Muhammadu Buhari plötzlich heiss­zulaufen: Am Donnerstag noch beim internationalen Korruptionsgipfel in London, wird er heute bereits beim Boko-Haram-Gipfel in Abuja erwartet.

Dabei müsste sich der 73-jährige Staatschef eigentlich auch um die Unruhen kümmern, welche die prekäre Wirtschaftslage des klammen Erdölstaates ausgelöst hat: Über «President go slow», wie der Ex-General zuhause spöttisch genannt wird, schlagen die Wogen zusammen.

Dabei wollte der als Hoffnungsträger gefeierte neue Staatschef das akuteste Problem seines Landes schon an Weihnachten gelöst haben. Die Extremistenmiliz Boko Haram, die in Nigerias Nordosten zeitweise ein Gebiet von der Grösse Belgiens beherrschte, sei «technisch geschlagen», teilte Buhari damals mit: Jetzt seien nur noch Aufräum­arbeiten nötig. Das erwies schon bald als frommer Wunsch: Der Welt tödlichste Islamistengruppe, die mit fast 30'000 Opfern mehr Menschen als der Islamische Staat auf dem Gewissen hat, gab das Morden nicht auf. Sie änderte lediglich die Taktik: Statt weiter für die Ausbreitung eines «Kalifats» zu kämpfen, verlegte sie sich auf die «asymmetrische Kriegsführung»: auf Selbstmordattentate und blitzartige Überfälle auf ungeschützte Dörfer.

Lohn für die Soldaten

Zumindest muss man Buhari militärische Erfolge seiner Streitkräfte zugute halten. Der Ex-General hatte den Befehlsstand seiner Truppen an die Front verlegt und die Soldaten ausnahmsweise auch wieder regelmässig bezahlt. Er liess korrupte Offiziere einsperren, die 15 Milliarden Dollar aus dem Vertei­digungsbudget gestohlen hatten, und stärkte die mangelhafte Kooperation ­seiner Streitkräfte mit denen des Tschads, von Niger und Kamerun um den Tschadsee herum. Auf diese Weise ist es den Soldaten immerhin gelungen, Boko Haram mit ihrer «Hauptstadt» Gwoza ihre Territorien zu entreissen: Sie operieren inzwischen nur noch aus ihren Verstecken im Busch heraus. Unschädlich gemacht sind sie damit allerdings nicht.

Noch immer gelingt es den Extremisten, Sympathisanten, Kämpfer und Selbstmordattentäter zu rekrutieren. Das geschieht einerseits mit Zwang und materieller Belohnung: Selbst junge Mädchen werden dazu überredet oder gezwungen, sich mit Sprengstoffgürteln in die Luft zu jagen, während jungen Männern Kredite angeboten werden, wenn sie sich als Kämpfer oder Spione zur Verfügung stellen. Am verhängnisvollsten aber ist, dass die Bevölkerung noch immer nicht so genau weiss, wer eigentlich ihr Freund und wer ihr Feind ist: Denn von der Regierung in Abuja und ihren Sicherheitskräften hatten sie bislang nichts Gutes zu erwarten.

Dass die Sicherheitsdienste über das Innenleben und die Struktur von Boko Haram so wenig wissen – es ist noch nicht einmal sicher, ob deren Chef Abu­bakar Shekau noch lebt – liegt nicht zuletzt daran, dass Überläufer und Gefangene auf übelste Weise behandelt werden. Nach Informationen von Amnesty International kamen in den vergangenen fünf Jahren mehr als 7000 verdächtigte Boko-Haram-Mitglieder in der Haft ums Leben – verhungert, zu Tode gefoltert oder wie einst Boko-Haram-Gründer Mohammed Yusuf ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Solange die Sicherheitskräfte dieses Verhalten nicht ändern, werden den Extremisten niemals die Rekruten ausgehen, sagen Experten. Die Armee sorgt selbst dafür, dass ihre Feinde nicht weniger werden.

Drei Millionen Vertriebene

Selbst wenn die Waffen tatsächlich bald schweigen sollten: Die Probleme im Nordosten des Landes sind heute noch grösser als zu Beginn der extremistischen Erhebung. In Borno und am Tschadsee wurden fast drei Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben: Ihre Lebensgrundlage ist zerstört, Handel und Landwirtschaft sind vollends zum Erliegen gekommen.

Schon seit Jahren fühlen sich die Muslime im Norden vom relativen Wohlstand im christlichen Süden abgehängt: Die miserable Wirtschaftslage in Nigerias Hinterland war der eigentliche Nährboden der Extremisten. Das zu ändern, wird Buharu schon alleine angesichts der leeren Erdölkassen schwerfallen: Da helfen auch noch so viele Gipfeltreffen nicht weiter.