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For a different development policy!

Beitrag vom 11.12.2015

querdenkende.org

Flüchtlingswellen absehbare Folgeerscheinung?

Ein Interview mit Volker Seitz

Die Welt rückt nicht nur scheinbar zusammen. Der vor fünf Jahren entstandene Arabische Frühling, der zunächst mit Protesten und Aufständen im Norden Afrikas begann, im Nahen Osten sich schnell fortsetzte, mag auf den ersten Blick mit der zunehmenden Unzufriedenheit in den dortigen Ländern zusammenhängen, der Aussichtslosigkeit wegen Arbeitslosigkeit, Armut und dem Bewußtsein, von Regimen beherrscht zu werden.

Doch die eigentlichen Ursachen haben einen wesentlich tieferen, länger zurückliegenden Ursprung, der sehr viel mit einer verfehlt westlich orientierten Politik zu tun hat. Selbst vor 9/11 gab es genügend Indizien, die jenen Weg zeichneten, die inzwischen absehbaren Flüchtlingswellen nur noch eine Folgeerscheinung darstellen. Allerdings macht es nicht viel Sinn, ständig die Vergangenheit zu analysieren, vielmehr hat die jetzt verantwortliche Politik Lösungen auszuarbeiten und anzubieten, bevor noch mehr Unheil geschieht.

Querdenkende hat den Botschafter und Diplomaten Volker Seitz um dieses Interview hier gebeten, der in seinem Buch „Afrika wird armregiert oder Wie man Afrika wirklich helfen kann“, welches ein Jahr vor dem Arabischen Frühling erschien, bereits ziemlich deutlich die Verfehlungen einer falsch verstandenen und angewandten Entwicklungshilfe in Afrika beschrieb. Daraus gelernt haben die westlichen Industrienationen im Wesentlichen bisherig nicht, die einmal installierte „Entwicklungshilfeindustrie“, wie Volker Seitz sie zurecht titutliert, hat sich verselbständigt.

Lotar Martin Kamm: Wir freuen uns, Ihnen die folgenden Fragen stellen zu dürfen, zumal gerade in den zurückliegenden sechs Jahren nach dem Erscheinen Ihres Buches sich viele Folgeprobleme ergaben. Muß man den Arabischen Frühling als logische Notwendigkeit betrachten, die unweigerlich sich dermaßen heftig vollzog? Entwicklungshilfe eine Folge totaler Mißachtung der dortigen Umstände, auch im Kontext, eine westliche Demokratie zu fordern?

Volker Seitz: Das Buch ist im Herbst 2014 in der siebten Auflage erschienen. Dies hat mir erlaubt, in jeder Neuauflage auf die zahlreichen aktuellen Probleme einzugehen, z.B. Arabischer Frühling, Flüchtlingsproblematik in die EU, Ruf nach Marshallplan, Agrarsubventionen oder zur „Everything but arms“-Zollfreiheitsvereinbarung mit der EU.

BMZ Minister Müller behauptete erst im September 2015 in seinem Heimatblatt “Kreisbote” aus Kempten: “Die deutsche Entwicklungshilfe ist stets an die Bedingung geknüpft, dass kein Euro in korrupte Kanäle verschwindet. Es werden nur Länder unterstützt, die sich um Rechtsstaatlichkeit bemühen und in denen die Ausbeutung ihrer Ressourcen nicht völlig an der einheimischen Bevölkerung vorbei geschieht.” Jeder, der sich ein bisschen vor Ort auskennt, weiß, dass dies nicht stimmt.

Auch Herr Müller wird sich eines Tages fragen lassen müssen, warum sein Ministerium wider besseres Wissen die korrupten alten Männer, die teils jahrzehntelang Macht und Kontrolle über die Bevölkerungen hatten, so lange unterstützt hat. Aber sein Ministerium und die Entwicklungshelfer leben von der “Hilfe” und haben kein Interesse daran, sich überflüssig zu machen. Entwicklungshilfe ist seit langem zum Geschäft geworden, und die Bereitschaft der Organisationen sich auf absehbare Zeit abzuschaffen, ist sehr gering. Immer noch wird bei den meisten Projekten überwiegend die Selbstevaluierung praktiziert. Es gibt zu wenig externe Evaluierung, und damit ist den geschönten Beurteilungen Tür und Tor geöffnet. Die Kontrollierten finden immer Wege, damit die Fortführung des Projekts nicht gefährdet wird und es bei entwicklungspolitisch nicht sinnvollen Dauersubventionen bleibt.

In dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International schneiden afrikanische Staaten – mit wenigen Ausnahmen – regelmäßig schlecht ab. Der Organisation zufolge liegt die Hälfte der dreißig korruptesten Staaten in Afrika. Manch einer hat dort geradezu grotesken Reichtum angehäuft. Jährlich wandert ein Viertel des afrikanischen Bruttoinlandsprodukts in private Taschen. OXFAM hat ausgerechnet, dass jährlich etwa 200 Milliarden Dollar Afrika illegal verlassen und damit der Entwicklung fehlen. Die Korruption und der Missbrauch von öffentlichen Geldern stellt eines der größten Hindernisse für die Entwicklung afrikanischer Staaten dar.

Der Volksaufstand in Tunesien könnte eines Tages die Jugend in Afrika beflügeln, sich gegen das Chefpersonal aufzulehnen. Im Gegensatz zum Arabischen Frühling fehlen derzeit aber einige Voraussetzungen: Afrikaner leben vor allem auf dem Land; es gibt nur eine winzige Mittelschicht, noch gibt es breite Debatten über Bürgerrechte. Die Opposition ist schwach organisiert. Schließlich leben in den Ländern meist sehr viele Völker, die sich nicht immer einer gemeinsamen Nation verpflichtet fühlen. In den meisten Staaten Afrikas gibt es eine breite Palette zivilgesellschaftlicher Organisationen, getragen von hoch motivierten, findigen, mutigen, zumeist jungen Leuten. Diese haben keine Angst, den Mächtigen zu widersprechen.

Die Durchschlagskraft dieser Interessenvertretungen ist bis heute aber eher überschaubar geblieben. Ihr Einfluss auf die Machtzentren ist überall gering. Bisher blieb deshalb ein afrikanischer Frühling aus. Weder die Langzeit-Herrscher in Äquatorialguinea, in Angola, in Simbabwe, noch in Kamerun oder Kongo (Brazzaville) mussten gehen. Immerhin, der seit 1987 in Burkina Faso regierende Autokrat Blaise Compaoré wurde 2014 aus dem Amt gespült. Zum Verhängnis wurde Compaoré, dass er seine Dauerherrschaft durch eine Verfassungsänderung zementieren wollte.

Lotar Martin Kamm: Der von Ihnen, aber auch von Dr. Rupert Neudeck, dem Gründer von „Cap Anamur“, der bekanntlich das Vorwort in Ihrem Buch „Afrika wird armregiert“ schrieb, sowie von etlichen anderen ins Leben gerufene „Bonner Aufruf“ im Jahre 2008 beinhaltete in sofern im Nachhinein betrachtet eine gewisse Vorahnung, was geschehen würde, falls die Politik weiterhin die betroffenen Länder und Regionen nicht ausreichend beachtet. Nun steht aber auf der Seite die Antwort von Angus Deaton, welche in der FAZ erschien, in der dieser bei entwicklungsfeindlichen Voraussetzungen vor Ort der Entwicklungshilfe eher eine gewisse Schädlichkeit bescheinigt, sie nichts bringe. Eine Bestätigung der Ausführungen Ihres Buches?

Volker Seitz: Ich habe den britischen Ökonom und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University, Angus Stewart Deaton schon häufig vor seinem Nobelpreis zitiert: In Afrika gibt es einige Staaten, die zwanzig, vierzig oder achtzig Prozent des Haushalts von der Entwicklungshilfe finanziert bekommen. Gelder in solch hohem Ausmaß beeinflussen das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung. Der Gesellschaftsvertrag wird gestört. Ohne ein demokratisches oder wechselwirksames Zusammenspiel von Steuern und Ausgaben kann der Staat nicht funktionieren.

Das Zusammenspiel von Verantwortungs-Übertragung und Rechenschafts-Pflicht, wie es in einer modernen Gesellschaft besteht, wird gestört. Entwicklungshilfe behindert deshalb die Entstehung eines funktionierenden Staates. Die UNO und mit ihr die Entwicklungshilfe-Industrie halten aber an alten Rezepten fest und diskutierten lieber das Spendenaufkommen. So fordern die Vereinten Nationen 0,7 Prozent des BNPs von den reichen Staaten, um Geld für ein neu formuliertes Entwicklungsziel aufzutreiben. Es geht viel zu sehr um uns und viel zu wenig um die Bedürfnisse der Menschen, die die Hilfe bekommen. Das ist in der Tat auch meine Meinung.

Wie ein Land durch bessere Steuerpolitik und ein investitionsfreundliches Klima erfolgreich sein kann, zeigen Ruanda, Botswana und Mauritius. Dort wird ausreichend investiert, es gibt ein gutes Bildungssystem, genug Energie, eine funktionierende Infrastruktur, Rechtssicherheit.

Lotar Martin Kamm: Können wir das überhaupt trennen, die Folgen der Entwicklungshilfe, wenn diese tatsächlich sinnvoll im einen oder anderen Fall gewirkt haben, in anderen Bereichen aber vielmehr der Macht einzelner Kräfte eher dienten, sich zu positionieren, die Menschen erst recht zu unterdrücken?

Volker Seitz: Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, der seinen Gegebenheiten entspricht und auf dem aufbaut, was bereits vorhanden ist. Es gibt kein Land der Welt, in dem Entwicklungshilfe zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum geführt hat. Europa täte gut daran, sein Verhältnis zu Afrika grundsätzlich zu überdenken. Gleichberechtigte Geschäftsbeziehungen sind sinnvoller als die heutige Form der Entwicklungshilfe. Echte Hilfe zur Selbsthilfe würde beinhalten, dass Entwicklungsländer ihre agrarischen und mineralischen Rohstoffe selbst weiterverarbeiten.

Entwicklungshilfe ist stets gut gemeint, bringt aber leider meist nur wenig. Eine Verringerung der Armut ist in Asien mit einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung gelungen. Klassische Entwicklungshilfe war da nur hinderlich und spielte keine Rolle.

Wir sollten auf Afrikaner wie den südafrikanischen Wirtschaftswissenschaftler Themba Sono hören. Er sagt: “Die afrikanischen Länder haben bisher stets eine Politik der Sammelbüchse betrieben und immer nur gebettelt: mehr Hilfe, mehr Hilfe, mehr Hilfe. Genau das muss sich ändern, kann sich aber nicht ändern, solange die großen Länder selbst die Bedeutung der Entwicklungshilfe betonen.”

Lotar Martin Kamm: Nun befindet sich ja bekanntlich die westliche Allianz zusammen mit ihren NATO-Verbündeten auf fremden Terrain in Syrien, um dort dem Terror des IS Paroli zu bieten, obwohl die Verhältnisse vor Ort alles andere als übersichtlich, obendrein der erklärte Abtrünnige, Russland, Syriens Präsidenten al-Assad zur Hilfe eilt. Eine schier gefährlich- unsichere Einmischung, die gar vom Nahen Osten aus einen Flächenbrand bewirken kann, zumal kürzlich erst Oberstleutnant a.D. Ulrich Scholz via Tagesschau die „Syrien-Tornado-Bundeswehreinsätze als sinnlosen Aktionismus“ titulierte?

Volker Seitz: Ich möchte mich nur zu Afrika äußern. Zuerst sind die afrikanischen Staaten selbst aufgerufen, in ihre Krisenherde im Kampf gegen Terrorismus und Inhumanität einzugreifen. Die USA und europäische Staaten wollen immer weniger die Konflikte afrikanischer Länder lösen. Neben fehlenden Kapazitäten ist besonders der mangelnde politische Wille der meisten afrikanischer Präsidenten problematisch, sich in Konflikten unter dem Dach der Afrikanischen Union (AU) oder der jeweiligen regionalen Wirtschaftsgemeinschaften zu engagieren und Truppen bereitzustellen. Bei der Aufstellung einer multinationalen Truppe blockieren sich Nigeria und Südafrika gegenseitig.

Beide beanspruchen das Oberkommando. Neben dem Souveränitätsverzicht über die eigenen Truppen fürchten nicht wenige Staatslenker, dass sich derartige Missionen auch einmal gegen sie selbst richten könnten. Immer noch blockieren sie deshalb mit unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen die Funktionsfähigkeit der Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur (APSA). Die Afrikaner müssen vor allem befähigt werden, Krisen selbstständig zu lösen und dabei die Fülle an Konfliktlösungsinstrumenten einzusetzen. 95 Prozent der Einsätze werden extern von Europa oder den USA finanziert. Mehr afrikanische Eigenverantwortung lässt sich so jedenfalls nicht erreichen. Besonders die afrikanischen Länder, die bereits seit Jahren hohe Rohstofferlöse erzielen (z.B. Angola, Nigeria, Äquatorialguinea, Kamerun und mindestens 10 weitere) müssten sich stärker beteiligen.

Lotar Martin Kamm: Die ausgelöste Flüchtlingswelle eine Folge der Instabilität der betroffenen Länder, zumal mit der unsäglichen Ermordung Gaddafis in Libyen dort nicht nur Chaos entstand, sondern obendrein Terrorbanden sich einfanden, aus weiten Teilen Afrikas Schleuserbanden mit profitieren, Flüchtlinge übers Mittelmeer gen Europa zu schiffen. Die EU keine geschlossenen Antworten findet, eine Frau Merkel mit der Bemerkung, „Wir schaffen das“ längst keine Lösungen anbietet? Derweil die USA selbst als Mitverursacher vieler dortiger Brandherde sich verhalten dabei zurückhält?

Volker Seitz: Das Eingreifen in Libyen war ein fataler Fehler. Es gibt dort keinen Staat mehr. Die meisten Afrikaner kommen mit Hilfe von Schlepperbanden über Libyen. Und gerade Deutschland wurde zum Magneten für Migranten. Frankreich als Teilnehmer des Krieges gegen das Gaddafi-Regime hat gerade mal ein paar Tausend Migranten aufgenommen.

Mit großzügiger Arbeitsmigration nach Deutschland werden die Probleme Afrikas nicht gelöst. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die deutsche Wirtschaft nach ihnen ruft, wenn sie von dem enormen Potenzial an Arbeitskräften schwärmt. Angesichts der wenigen gesicherten Erkenntnisse über die Qualifikation derer, die hier ein besseres Leben suchen, ist das wenig realistisch. Allein in Nigeria werden jedes Jahr mehr Menschen geboren als in der gesamten EU. Kein Arbeitsmarkt auf der Welt kann solche Mengen auffangen. So sind dort bereits jetzt über die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen ohne Arbeit.

Die meisten Migranten aus Afrika kommen ohne akuten Fluchtgrund. Der Unterschied zwischen Asyl und Migration wird verwischt. In der Politik und der veröffentlichten Meinung ist nur noch von Flüchtlingen die Rede, nicht von illegalen Wirtschaftsmigranten. Entwicklungshilfe für Herkunftsstaaten muss deshalb künftig an eine Kooperation bei der Rückführung gekoppelt werden. Andererseits müssen Asylbewerber, deren Leben nachweisbar in ihrer Heimat bedroht ist, sich dabei fest darauf verlassen können, bei uns willkommen zu sein.

Mehrere Äußerungen von Politikern sind dazu angetan, den Zustrom weiter anschwellen zu lassen. Die Moralkeule mit der Aussage, dass es “keine Maximalzahl von Einwanderern gibt”, die Ergriffenheit der “Willkommenskultur” und der derzeit gepflegte Gleichklang der Politiker und Medien sind eine anfeuernde Botschaft an Migranten auch aus Afrika und verschärfen die Flüchtlingskrise, weil sie sich wie ein Lauffeuer verbreiten. In Afrika weiß jeder Radiohörer (und jedermann hat ein Transistor-Radio): “Wer in Deutschland Asyl beantragt, darf einwandern.” Über den Migranten zustehenden Rechten wird ausführlich informiert. Auch die Gesundheitskarte mit einer umfassenden kostenfreien Gesundheitsversorgung wird weitere Zehntausende Afrikaner zur Wanderung nach Deutschland ermuntern. Vor allem der deutsche Sozialstaat wirkt als großer Anreiz. Über die hohen deutschen Zuwendungen sind Millionen potentieller Migranten über europäische und afrikanische Medien bestens unterrichtet.

So hat die deutsche Politik durch finanzielle Anreize einen gewaltigen Sog entstehen lassen. Eine Absenkung der deutschen Zuwendungen würde in Afrika aufmerksam registriert. Wie sollen denn in den Herkunftsländern angemessene Zustände hergestellt werden, wenn die Aktivsten und Ausgebildeten das Land verlassen? Wir bilden uns etwas auf unser Gut sein ein, doch die Herkunftsländer bluten aus. Es liegt nichts Gutes darin, wenn wir durch falsche Anreize leichtfertig illegale Migration fördern und die Menschen auf den Schlepperrouten sterben.

Lotar Martin Kamm: Möchten Sie am Ende des Interviews noch etwas zum Thema ergänzen, was Ihnen auf der Seele brennt?

Volker Seitz: Ja, ich möchte noch ein paar Schlussbemerkungen machen: Der Wirtschaftswissenschaftler und Afrikanist Prof. Kappel fordert, “eine pro-aktive” Politik für Migrationswillige zu erarbeiten. Ein erster Schritt könnte sein, dass Deutschland Signale nach Afrika sendet: Wir nehmen euch auf, aber ihr sollt auch wissen, es werden nicht alle aufgenommen. Über die Botschaften könnten Migranten einen Einwanderungsantrag stellen. Zumindest könnten einige der Migranten klar erkennen, dass die Reise möglicherweise nicht lohnt und sie damit die hohen Kosten des Transfers nach Europa, das in die Taschen der Mafiaorganisationen fließen, sparen.

Auch das geplante?italienische?Pilotprogramm im Niger ist ein richtiger Ansatz: Rückfahrkarte in die Heimat mit der Hilfe zu einem Neustart. Ebeneso könnte flankierend?eine?gemeinsame europäische Berufsausbildungsinitiative, eine Art Senior Expert Service, eine echte Selbsthilfe an der Basis?fördern. Es gibt?nach meinen Erfahrungen?genug europäische Handwerker im Rentenalter, die gerne ihr Wissen weitergeben würden. Junge Afrikaner brauchen Ausbildung und Berufe, um sie in ihren Ländern zu halten. Wir sollten Afrikanern mehr als bisher eine eigene Leistung zutrauen und sie unterstützen, wenn sie selbst aktiv werden wollen.

Es gibt junge Unternehmer in Afrika mit Kreativität, Enthusiasmus, Pionier- und Unternehmergeist. Es sind hauptsächlich sie, die die Wirtschaft und mit ihr die Entwicklung ihres Landes vorwärtsbringen, oft wohl auch trotz der fehlenden staatlichen Unterstützung in Form von guter Bürokratie und Infrastruktur. Lokales Know-how und umfassende Betreuung, Finanzierung durch Diaspora/staatliche Hilfsorganisationen?über mehrere Jahre könnte ein Erfolgsmodell für die Schaffung von Arbeitsplätzen werden. Erfolge werden erst einmal begrenzt sein, und es wird dauern. Zumindest sollte es versucht werden.

Über Länder-Patenschaften könnten einige der Fluchtursachen bekämpft werden. Auch würde sich Europa durch den Fokus auf einzelne Staaten, etwa im Trockengürtel des Sahel, aus dem die meisten afrikanischen Migranten stammen, bei seinen Hilfsaktionen weit weniger als bislang verzetteln. Wir sollten dabei nur Staaten unterstützen, die bereit sind, die eigene Regierungsarbeit und zentrale Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung wie etwa die berufliche Bildung konsequent zu fördern. Lange Jahre ist viel zu wenig ehrlich und konkret darüber debattiert worden. Das rächt sich jetzt bitter.

Der Kontinent braucht dringend Arbeitsplätze.

Die bewohnbare Fläche Afrikas ist so groß wie die der USA, der EU, Indiens, Chinas und Japans, zusammen. Afrika verfügt über 50-70% des fruchtbaren Bodens der Welt. Noch vor 30 Jahren waren die meisten Länder Selbstversorger. Dass sich die ärmsten Länder heute über den Weltmarkt ernähren müssen, ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Politik der Diskriminierung bäuerlicher Landwirtschaft. In nur wenigen Ländern wird die Landwirtschaft gefördert. Die angolanische Volkswirtschaft z.B. ist in allen Bereichen auf Importe angewiesen. Darunter Grundnahrungsmittel wie Reis, Eier, Gemüse (Knoblauch, Zwiebeln, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Tomaten, Kohl, Mais und Maniok) und sogar Früchte (Mango, Bananen und Ananas).

«Landwirtschaft ist aber der beste Motor für nachhaltiges Wachstum und Entwicklung», betont der afrikanische Unternehmer und Stiftungsgründer Mo Ibrahim. «Aber nur zwei Prozent unserer Studenten studieren Agrarwissenschaften», klagt er. Sofern die Agrarflächen sinnvoll genutzt werden, könnten Millionen von Jobs entstehen. Dies sollten wir unterstützen.

Lotar Martin Kamm: Wir bedanken uns recht herzlich für das ausführliche und aufschlußreiche Interview.

(Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Volker Seitz gehört zum Initiativ-Kreis des “Bonner Aufrufs” zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Buches „Afrika wird armregiert“, welches im Herbst 2014 in erweiterter siebter Auflage bei dtv erschienen ist.)