Skip to main content
For a different development policy!

Beitrag vom 12.10.2015

Allgemeine Zeitung, Windhoek

Afrikas Bevölkerungsexplosion: Das gefährliche Tabu

von Wolfgang Drechsler, Kapstadt

Der Widerspruch könnte größer kaum sein. Während auf Investment-Konferenzen, aber auch in den Medien seit Längerem der Aufstieg Afrikas bejubelt wird, sehen vor allem jüngere Afrikaner in der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer oft den einzigen Ausweg aus dem Stillstand und der Not auf ihrem Kontinent.

Zwischen den zirkulierten Wachstumszahlen und den konkreten Lebensumständen vieler Afrikaner liegen Welten: Während in den meisten Ländern kleine, selbstsüchtige Eliten vom zeitweiligen Aufschwung der Rohstoffpreise profitiert haben, hat sich an der tristen Lage des überwiegenden Teils der Bevölkerung wenig geändert. In Nigeria, der gerne zum Hoffnungsträger verklärten, größten Volkswirtschaft Afrikas, leben mehr als 100 Millionen der inzwischen 175 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Wirklich tragfähige Strukturen für ein wirklich nachhaltiges Wachstum fehlen fast überall.

Viermal mehr Menschen

Groß ist deshalb in Europa die Sorge, die Migration aus dem Süden könne aus dem Ruder laufen. Gegenwärtig stammen „nur“ rund 20 Prozent aller Flüchtlinge aus Afrika. Das könnte sich bei fortgesetzter Apathie jedoch schnell ändern. Die Vereinten Nationen (UN) weisen in ihrem jüngsten Bericht zur Bevölkerungsentwicklung darauf hin, dass in Afrika die Zahl der Menschen weiter massiv steigt und sich bis 2100 wohl fast vervierfacht - von heute 1,2 auf rund 4,5 Milliarden!

Während die Gesellschaften im Westen altern, brechen sie in weiten Teilen von Afrika unter der Last der vielen Kinder allmählich zusammen: In Ländern wie Uganda ist bereits jetzt die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahren. Doch nur die Allerwenigsten von ihnen haben Aussicht auf einen Job und damit eine Perspektive. Auch können schon jetzt fast alle afrikanischen Länder ihre Menschen nicht einmal ernähren. 35 der 48 Länder in Subsahara-Afrika sind Lebensmittelimporteure - Tendenz steigend.

Andere Regeln in Afrika

Wer glaubt, der enorme Zuwachs würde sich mit einem höheren Lebensstandard in Afrika irgendwann von selbst erledigen, unterliegt einem Trugschluss. Das patriarchalisch geprägte Afrika tickt nach anderen kulturellen Regeln. Frauen, die nicht gebären, werden oft verlassen. Verwendet eine Frau Verhütungsmittel, argwöhnen Männer oft, sie wolle fremdgehen. Kein Wunder, dass sich viele Mädchen wegen des hohen gesellschaftlichen Drucks am Ende für eine große Familie von durchschnittlich fast fünf Kindern entscheiden. Um daran etwas zu ändern, müssten die Machtstrukturen zwischen Mann und Frau in Afrika grundsätzlich verändert werden. Doch das braucht Zeit, die Afrika nicht mehr hat.

Statt über die angeblich zu geringe Entwicklungshilfe zu schwadronieren, müssten die vielen unfähigen Regierungen in Afrika durch eine Kopplung der Hilfsgelder an eine realistische Bevölkerungspolitik gedrängt werden, die hohe Geburtenrate mit weit mehr Nachdruck als bislang anzugehen. Sonst geht jeder kleine Fortschritt sofort wieder verloren. Im Westen schreckt man aber vor Forderungen nach einem kulturellen Wandel in Afrika zurück - aus Angst, als Rassist zu gelten. Daneben hat eine Allianz aus Vatikan, amerikanischen Evangelisten und Muslimen dazu geführt, dass die Familienplanung zu einem Tabu der Entwicklungspolitik geworden ist.

Die Ängste überwinden

Dabei könnte mit einer intensiven, von Afrika und den westlichen Geberländern gleichermaßen forcierten Familienpolitik vieles gleichzeitig bewirkt werden. Das Erreichen der Millenniums-Entwicklungsziele der UN - die Armut sollte bis 2015 halbiert werden, ein Ziel, das in Afrika spektakulär verfehlt wurde - wäre in vielen Bereichen wie etwa der Bildung oder Gesundheit weit billiger gewesen, hätte man das Bevölkerungswachstum von Beginn an stärker einbezogen. Ob sich die Lage nun noch wenden wenden lässt, hängt davon ab, ob der Westen seine kulturellen Berührungsängste überwindet und weltweit rasch ein neues Interesse an Fragen der Bevölkerungskontrolle in Afrika erwacht. Die aktuelle Flüchtlingsdebatte könnte dabei vielleicht zumindest in Europa gerade noch rechtzeitig zu einer Art Weckruf werden.