Beitrag vom 21.08.2012
Neue Zürcher Zeitung
Nervosität in ÄthiopienUngewissheit nach dem Tod des Herrschers
Als aufgeklärter Despot hat Äthiopiens Premierminister Meles Zenawi sein Land aus dem Mittelalter gepeitscht. Sein Tod sorgt für Nervosität. Lange unterdrückte ethnische und soziale Konflikte drohen aufzubrechen.
Markus M. Haefliger, Nairobi
Äthiopiens Regierungschef Meles Zenawi ist am Montagabend gestorben, wie am Dienstag offiziell bekanntgegeben wurde. Er war schon länger krank und hatte sich seit Juni nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Die Verfassung sieht keine automatische Nachfolgeregelung vor, doch wird voraussichtlich der Aussenminister und stellvertretende Ministerpräsident Haile Mariam Desalegne an die Spitze der Regierung treten. Er stammt aus einer ethnischen Minderheit der Südregion.
Standbein in der Moderne
Meles Zenawi wollte sich von den anderen starken Männern an den Staatsspitzen Afrikas unterscheiden. Das zeigte schon sein Titel «Premierminister». Wo sonst - abgesehen von zwei Monarchien - ausnahmslos Staatspräsidenten die Geschäfte führen und die mangelnde Unterscheidung zwischen Staat und Regierung nachgerade zum Selbstverständnis afrikanischer Politik gehört, ordnet sich Meles zumindest formal dem Staatsoberhaupt, Präsident Girma Woldegiorgis, unter.
Der Mann hatte also etwas begriffen. Es ist dieses Standbein in der Moderne, das Meles die Bewunderung westlicher Staatschefs und Prominenter wie Tony Blair und Bob Geldof eingebracht hat. Andere Merkmale afrikanischer Kabinettspolitik jedoch pflegte Meles mindestens so hingebungsvoll wie andere. Dazu gehörte die Geheimnistuerei um seine Krankheit und eine allfällige Nachfolge.
Zwischen tot und genesen
Im Juni war Meles am Gipfel der G-20 in Mexiko zum letzten Mal öffentlich aufgetreten. Gleich danach soll er sich in Spitalpflege begeben haben, aber es ist unklar, unter welchen Umständen und in welcher Verfassung. Laut Diplomaten in Addis Abeba und Brüssel steht fest, dass er sich in der belgischen Hauptstadt einer Operation unterziehen musste. Gerüchteweise heisst es, der 57-Jährige habe an Blutkrebs gelitten.
Die äthiopische Exilopposition behauptete auf einschlägigen Websites schon früher, Meles sei bereits tot. Laut der äthiopischen Regierung dagegen verbesserte sich sein Gesundheitszustand täglich. Am äthiopischen Staatsfernsehen wurden anlässlich eines Ministerbesuchs in China in stalinistischer Manier Archivaufnahmen gezeigt, die Meles in Peking an der Seite seines Amtskollegen Wen Jiabao zeigten.
Was für Folgen Meles' Tod für Äthiopien mit seinen über 80 Millionen Einwohnern haben wird, ist weit über die Region hinaus von Interesse. Das Land ist am unruhigen Horn von Afrika die führende Regionalmacht mit der stärksten Armee. Darüber hinaus kommt das ehemalige abessinische Kaiserreich einer christlichen Hochkultur in Afrika am nächsten und wird in westlichen Hauptstädten als natürlicher Verbündeter im Kampf gegen islamistische Extremisten wie in Somalia angesehen.
Aus dem Mittelalter gepeitscht
Meles hat sein Land stärker geprägt als fast jeder andere afrikanische Staatschef. Umso grösser ist die Furcht vieler, dass Äthiopien ohne Meles ins Wanken geraten könnte. Die regierende Ethiopian People's Revolutionary Democratic Front (EPRDF), eine von Meles geschaffene Koalition gleichgeschalteter Parteien, hat seit der gewaltsamen Machtergreifung im Jahr 1991 dem in vieler Hinsicht mittelalterlich anmutenden Land einen Modernisierungsschub verpasst. Die Volkswirtschaft wuchs in den letzten acht Jahren durchschnittlich um knapp neun Prozent pro Jahr - so stark wie in China. An Plätzen in Addis Abeba, auf denen vor zwei Jahrzehnten Bettler die Automobilisten bestürmten, stehen moderne Bürogebäude.
Die gleiche Entwicklung hat in abgeschwächter Form die Provinz erreicht. Durch eine von oben kontrollierte Landprivatisierung entstand eine bäuerliche Mittelklasse. Der Sprung in eine Art Moderne offenbart freilich auch Widersprüche - zwischen Arm und Reich, politischen Ansprüchen und staatlichem Kontrollapparat sowie innerhalb des Völkergemischs, welches das Land prägt.
Gemessen an seinen Vorgängern, von Menelik im 19. Jahrhundert über Haile Selassie, den letzten Kaiser, bis zum blutrünstigen Derg-Regime Mengistus, war Meles ein aufgeklärter Despot. Er liess die teilweise Kommerzialisierung der Landwirtschaft zu, begünstigte die Entstehung einer verarbeitenden Industrie und erschloss Energiequellen. Die zahlenmässig starke und gut ausgebildete Diaspora kehrt scharenweise zurück und investiert.
Ethnische Spannungen
In einer Region, in der individuelle und nationale Ehre eine archaisch anmutende Rolle spielen, entliess Meles Eritrea im Jahr 1993 gegen den erbitterten Widerstand in den eigenen Reihen in die Unabhängigkeit. Als der Nachbar fünf Jahre später erneut einen Grenzkrieg vom Zaun brach und die Armee das günstige Kriegsglück nutzen und bis nach Asmara marschieren wollte, befahl Meles, innezuhalten. Viele Landsleute nahmen ihm dies übel. Sie übergingen dabei, dass sich die verfeindeten Bruderstaaten vermutlich in einem heissen statt kalten Krieg gegenüberstehen würden, hätte Meles anders entschieden.
Eine der politischen Visionen Meles' zu Beginn der 1990er Jahre war die Föderalisierung des Staats, der in zehn Regionen nach Massgabe der jeweils mehrheitlich vertretenen Völker und einen Hauptstadt-Distrikt aufgeteilt wurde. Die Reform galt als revolutionär, aber sie missriet, weil sie unehrlich gemeint war und nicht konsequent durchgeführt wurde.
Meles, der dem tigrinischen Volk angehörte (6 Prozent aller Äthiopier) und im Bürgerkrieg als Guerillachef die marxistische Tigray People's Liberation Front (TPLF) angeführt hatte, erwies sich wie seine Vorgänger, die dem Volk der Amharen (26 Prozent der Bevölkerung) angehört hatten, als unfähig, mit der Völkervielfalt des Landes umzugehen. Die TPLF manipulierte die Dezentralisierung durch Parteigründungen in den Regionen der Amharen, Oromo (35 Prozent Bevölkerungsanteil) und in der Südregion mit ihren Minderheiten und schuf daraus eine gefügige Koalition. Das Modell fördert die politische Beteiligung von Bevölkerungsteilen, die zuvor marginalisiert wurden, aber es sät auch Zwietracht. Örtliche Minderheiten fordern Sonderrechte ein, die manchmal gewährt werden, manchmal nicht.
Verächter der Demokratie
Meles gelang es, die ethnischen Chauvinismen unter dem Deckel zu halten. Nach seiner Vorstellung ist Demokratie gut, solange niemand eine Alternative zur machthabenden Partei einfordert. Als Meles 2001 wegen der Beendigung des Kriegs mit Eritrea innerhalb der TPLF ziemlich alleine dastand, kehrte er mit hartem Besen und schloss 7 von 12 Politbüromitgliedern aus der Partei aus. Vier Jahre später löste eine vorsichtige demokratische Öffnung in einigen Gegenden einen Erdrutschsieg der Opposition aus, die im Hauptstadt-Distrikt fast alle Sitze in der regionalen Volksvertretung eroberte.
Andernorts unterdrückten die Behörden die Resultate. Proteste wurden niedergeschlagen. Menschenrechtsorganisationen zählten rund 200 Tote und fast 30 000 Festnahmen. Viele Oppositionelle wurden deportiert, andere flohen ins Exil. Meles macht im Übrigen kein Hehl aus seiner Verachtung für die liberale Demokratie. Den oft behaupteten Zusammenhang zwischen Demokratie und Wirtschaftswachstum gebe es nicht, sagte er ohne Umschweife am World Economic Forum für Afrika in Addis Abeba im vergangenen Mai.
Islamisten als Popanz
Nach den parteiinternen Konflikten von 2001 und der Oppositionswelle von 2005 erblickte das Regime zuletzt offenbar im Wahhabismus eine neue Bedrohung. Die Gefahr ist angesichts des militärischen Engagements gegen die extremistische Shabab-Miliz in Somalia naheliegend, aber Beobachter halten die Reaktion der Behörden für unangemessen.
In den letzten Monaten setzte das Regime den nationalen Rat der Muslime mit der Forderung unter Druck, Mitglieder der gemässigten Ahbash-Sekte in Führungspositionen zu hieven. Die Ahbash-Gruppe, gemässigte Fundamentalisten, die ihren Ursprung in Libanon haben, sind Gegner der Wahhabiten. Im Juli kam es zu Protesten von Muslimen gegen die Beeinflussungsversuche, die von der Polizei niedergeschlagen wurden.
Spannungen im Regime
Seit den Säuberungen vor zehn Jahren umgab sich Meles zunehmend mit Getreuen, die entweder dem Sicherheitsapparat oder dem Kreis von Vertrauten angehören, die keine persönlichen und ideologischen Verbindungen zur TPLF mehr haben. Das führte zu Ressentiments. Die TPLF ist allerdings in sich ebenfalls zerstritten. Anhänger eines alten Staatssozialismus stehen Wirtschaftsliberalen gegenüber, und die Eritrea-Politik entzweit Pragmatiker und Revisionisten. Einen weiteren Konflikt sieht der Autor und Äthiopien-Kenner René Lefort zwischen Nostalgikern des Befreiungskriegs, die darauf pochten, die Tigriner hätten ein historisches Recht zu regieren, und Pragmatikern.
Selbstbedienung der Eliten
Eine andere Quelle der Unzufriedenheit liegt in der wachsenden Mittelklasse. Das Regime beherrscht das Wirtschaftsleben weitgehend. Die Regierung kontrolliert zwei Drittel der formellen Volkswirtschaft ausserhalb des Kleinbauern-Sektors. Der Staat direkt oder Regiebetriebe sind in den Sektoren Banken, Versicherungen, Verkehr, Telekommunikation und verarbeitende Industrie tätig und bilden den wirtschaftlichen Arm der EPRDF.
Loyalitäten aus der Politik und von Familienclans vermischen sich mit Geschäftsbeziehungen. Die Aneignung von Teilen des wirtschaftlichen Kapitals durch die politische Elite und ihre technokratischen Verbündeten ist die Schattenseite des aufsehenerregenden Wirtschaftswachstums im letzten Jahrzehnt. Sie äussert sich unter anderem in einer institutionalisierten Korruption, die der Aussenansicht Äthiopiens als eines vergleichsweise wenig korrupten Staats widerspricht (Kasten).
Institutionalisierte Korruption
Die Korruption in Äthiopien ist weniger sichtbar als andernorts. Nach dem Index von Transparency International rangiert das Land auf Rang 16 von 54 in Afrika, das heisst im besseren Drittel. Aber die Korruption ist institutionalisiert. Laut dem jüngsten Bericht von Global Financial Integrity, einer amerikanischen Organisation zur Beobachtung und Anprangerung von gesetzeswidrigen Finanzströmen, brachten Äthiopier zwischen 2000 und 2009 zwischen 7,8 und 11,7 Milliarden Dollar an nicht verbuchten oder nicht versteuerten Geldern ins Ausland. Die über ein ganzes Jahrzehnt andauernde Kapitalflucht macht 8 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus, womit Äthiopien unter den zehn am schlechtesten klassierten Ländern Afrikas figuriert.
Die Diskrepanz zwischen relativ geringer Korruptionswahrnehmung einerseits und hohen illegalen Finanzströmen andererseits könnte darin liegen, dass ein grosser Teil der Wirtschaft von der politischen Elite kontrolliert wird. Nach den jüngsten Wirtschaftsberichten nimmt die Kapitalflucht zu, was Beobachter mit der unsicheren Nachfolgeregelung an der Spitze des Regimes in Verbindung bringen.
Der Boom schwächelt
In jüngster Zeit zeigt der wirtschaftliche Boom Risse. Die Kapitalflucht nimmt zu, die Investitionen nehmen ab. Beobachter sehen darin ein Anzeichen der Nervosität angesichts einer ungewissen Zukunft. Die äthiopische Notenbank ging kürzlich dazu über, den Zugang zu Devisen zu rationieren. Zu Protesten wie 2005 dürfte es allerdings kaum kommen. Die Bürgergesellschaft ist durch restriktive Gesetze geschwächt. So dürfen Nichtregierungsorganisationen, die sich zu Fragen der Menschenrechte und des Rechtsstaats äussern, nicht mehr als zehn Prozent ihrer Einnahmen aus dem Ausland beziehen.
Dazu kommt die Furcht vor der Repression. Die Gerichte scheuen sich nicht, die vor drei Jahren eingeführten Anti-Terror-Gesetze zu missbrauchen, um Kritiker und Journalisten wie Eskinder Nega mundtot zu machen. Der Blogger und Pulitzerpreisträger wurde im Juli zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.