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Beitrag vom 20.01.2012

Allgemeine Zeitung, Windhoek

Nigeria: Unruhen bedrohen Stabilität und Reformversuche

Die schweren Unruhen in Nigeria bedrohen jetzt auch die Ölförderung in dem westafrikanischen Land. Zwei wichtige Gewerkschaften der Ölarbeiter wollen sich nun offenbar dem seit ein paar Tagen andauernden Generalstreik anschließen und dazu ihre Mitglieder von den Förderanlagen vor der Küste und im Nigerdelta abziehen. Ob dies aber auf die Ölförderung schlägt und damit den Preis beeinflusst, ist unter Experten umstritten. Nigeria ist der achtgrößte Ölproduzent der Welt; die Drohung ließ den Preis des Rohstoffs vergangene Woche zwischenzeitlich leicht ansteigen.

Weite Teile der Bevölkerung protestieren seit einigen Tagen gegen eine Entscheidung von Präsident Goodluck Jonathan, die hohen staatlichen Subventionen beim Kauf von Öl und Benzin zu streichen oder zumindest stark zu reduzieren. Für viele bitterarme Nigerianer waren die künstlich niedrig gehaltenen Preise der einzige Bonus aus dem Ölreichtum ihres Landes. Entsprechend groß sind bei vielen jetzt Wut, Verbitterung und Empörung.

Selbst das Zugeständnis des Präsidenten, den seit Abschaffung der Subventionen um das Doppelte gestiegenen Ölpreis sofort um 30 Prozent zu reduzieren, scheint weder die Gewerkschaften noch die Bevölkerung zu beeindrucken. Jonathan hatte zu Wochenbeginn in einer Fernsehansprache mitgeteilt, seine Regierung werde aufgrund der "harten Umstände, unter denen viele Nigerianer leiden", den Spritpreis auf 97 Naira (rund 4,75 N$) pro Liter senken. Allerdings werde seine Regierung weiterhin eine Liberalisierung des Ölsektors vorantreiben. Die nigerianische Regierung hatte zum Jahreswechsel die hohen Ölsubventionen aufgehoben, woraufhin der Spritpreis von 65 Naira pro Liter auf teils mehr als 140 Naira (ca. 6,86 N$) schnellte.

Die heftigen Proteste gegen den Wegfall der Subventionen verstärken die Sorgen um die Stabilität des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas mit seinen fast 160 Millionen Menschen. Seit den Bombenanschlägen zu Weihnachten nehmen die Spannungen zwischen Christen und Muslimen im Norden des Landes dramatisch zu. Mehr als 100 Nigerianer, zumeist Christen, sind seither bei Selbstmordanschlägen und anderen Attentaten getötet worden.

Verantwortlich für die meisten Anschläge ist die radikalislamische Sekte Boko Haram, deren Mitglieder den westlichen Lebensstil grundsätzlich ablehnen und keine Kompromissbereitschaft erkennen lassen. Ein Indiz für ihre unversöhnliche Haltung findet sich darin, dass das islamische Recht (Scharia) von der muslimischen Mehrheit im Norden Nigerias auch gegenüber anderen religiösen Minderheiten angewendet wird, obwohl ein solcher Schritt eigentlich gegen die in der nigerianischen Verfassung verankerte Religionsfreiheit verstößt.

Was auf den ersten Blick wie ein Krieg der Religionen erscheint, ist oftmals ein Kampf um die immer knapper werdenden Ressourcen. Die staatlichen Institutionen sind noch immer zu schwach, die Konflikte der mehr als 250 Volksgruppen wirklich zu kanalisieren und zu entschärfen. Aber auch wirtschaftlich ist der Aufholbedarf nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und Korruption riesengroß. Obenan steht die katastrophale Stromversorgung. Viele Nigerianer klagen über permanente Stromausfälle. Wer es sich leisten kann, wird deshalb zum Energieselbstversorger und legt sich einen Generator oder ein Bohrloch zu. Mehr als Zweidrittel der Elektrizität im Land wird heute in Kellern und Hinterhöfen produziert. Das Gleiche gilt für die maroden Ölraffinerien. Ihr Ausfall führt zu der absurden Situation, dass Nigeria als weltweit achtgrößter Ölproduzent fast sein gesamtes Benzin importieren muss.

Weite Teile der Bevölkerung befürchten nach den Erfahrungen der Vergangenheit, dass die Gelder, die durch den Abbau der Öl-Subventionen eingespart werden, nicht wie versprochen in den Aufbau der Infrastruktur und eines neuen, rund 35 Milliarden US-Dollar teuren Stromnetzes fließen, sondern abermals in die Taschen der korrupten Eliten. Die Regierung selbst beziffert die erhofften Einsparungen auf fast acht Milliarden Dollar pro Jahr.

Dabei halten Ökonomen den Schritt für unabdingbar, wenn Afrikas zweitgrößte Volkswirtschaft genesen soll: Zum einen summieren sich die Subventionen auf rund ein Viertel der gesamten Staatsausgaben. Zum anderen sind die Zahlungen eine stete Quelle der Korruption: Hauptnutznießer der üppigen Staatsgelder sind rund 100 Unternehmen, die sich in Händen der reichsten Nigerianer befinden.

Daneben dürfte der Subventionsabbau die vielen korrupten Praktiken der staatlichen nigerianischen Ölgesellschaft Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC) aufdecken. Neben einem Teil der Ölimporte sind hier Milliarden von Dollar verschwunden, die eigentlich für die Instandhaltung der vier Raffinerien gedacht waren. Eine erfolgreiche Umsetzung der neuen Politik würde Nigeria deshalb nicht nur viel Geld sparen, sondern wäre auch ein gewaltiger Schritt im Kampf gegen die gesellschaftlich tief verwurzelte (und oft akzeptierte) Korruption.

Hoffnungsvoll stimmt inmitten der Krise, dass es Staatschef Jonathan mit der von seinen Vorgängern stets versprochenen, aber nie angegangenen Korruptionsbekämpfung offenbar wirklich ernst meint. So will er nicht nur die großzügigen Gehälter von Staatsangestellten um mindestens 25 Prozent kürzen sondern auch die vielen Reisen von Politikern ins Ausland stark einschränken. Daneben hat Nigerias Präsident die Verhandlungen mit den Rebellen im Nigerdelta forciert, aus dem ein Großteil des nigerianischen Öls stammt. Jonathan selbst kommt aus der Region und hat dort entsprechend mehr Einfluss.

Schließlich lässt der Präsident auch Nigerias chaotisches Wahlsystem überarbeiten, das für die massiven Fälschungen bei früheren Urnengängen verantwortlich war. Ohne eine grundlegende Erneuerung des gesamten politischen Systems kann Nigeria viele der nun überfälligen Reformen schon deshalb nicht wirksam in Angriff nehmen, weil der Regierung dazu die notwendige Legitimation fehlen würde.
Von Wolfgang Drechsler