Beitrag vom 31.07.2024
The European
Schurken, Zombies und leere Kassen: Entwicklungshilfe auf dem Prüfstand
Artikel vom 29.07.2024
Warum Weltsozialpolitik nicht funktioniert: Der geschrumpfte Haushalt erzwingt Kürzungen und sollte endlich eine ehrliche Diskussion eröffnen über die Ausgaben für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung rund um den Globus.
Frank Priess
Das war abzusehen: die finanziellen Spielräume im Bundeshaushalt werden enger, die Verteilungskämpfe härter. Auch für die Entwicklungspolitik ist die Zeit der großen Zuwächse vorbei, zusammen mit dem Auswärtigen Amt gehört man bisher zu den Verlierern im Haushaltspoker. Wenn sich soziale Wohltaten zu Hause und Weltsozialpolitik hart im Raum stoßen, scheinen die Prioritäten klar – die Regierung optiert für den geringeren Widerstand, auch wenn die Entwicklungsindustrie lautstark protestiert. Zeit, sich einige grundlegende Fragen zu stellen und ehrlich Zwischenbilanz ziehen.
Zunächst einmal ist das, was Deutschland für Entwicklungshilfe ausgibt, deutlich mehr als das, was sich im Haushalt beim entsprechenden Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) – eine solche Alleinstellung gibt es in anderen Ländern längst nicht mehr – und bei der Humanitären Hilfe im Auswärtigen Amt findet, rund dreimal so viel. Dies zeigen die Zahlen der OECD, die das dort zuständige Komitee als entwicklungsrelevante öffentliche Entwicklungsausgaben (ODA / Official Development Assistance) für Deutschland anerkennt. Da erreicht die Bundesrepublik das längst zu einem Fetisch gewordene 0,7-Prozent-Ziel für Entwicklungshilfe als Anteil am Bruttosozialprodukt, weil es unter diesem Posten zum Beispiel die Ausgaben buchen kann, die in Deutschland selbst für Flüchtlinge und Asylsuchende anfallen. Stärker in Flüchtlingslager vor Ort zu investieren, entsprechende UN-Programme besser auszustatten und Flüchtlinge damit eher zum Verbleib in der Nähe der Heimatländer und -regionen zu motivieren, wäre sinnvoller und billiger – „bilanztechnisch“ stünde Deutschland aber möglicherweise schlechter da.
Auch sonst steckt viel kreative Buchführung in dem, was „ODA-fähig“ ist und was nicht. Fragen könnte man etwa, warum die Ausgaben für militärischen Schutz wie in Afghanistan nicht anrechenbar sind, obwohl – wie sich gerade zeigt – ohne sie Entwicklungsprojekte unmöglich sind. Zudem legt die OECD in Länderlisten fest, welche Länder (noch) in die Entwicklungskategorie fallen: sind sie erfolgreich in ihrer Entwicklung, gelten sie nicht mehr als bedürftig und verlieren ODA-Mittel, werden also für ihren Erfolg bestraft – theoretisch sinnvoll, in der Praxis nicht immer einsichtig. Bemerkenswert auch, dass es oft gerade nicht die größten Empfänger von Entwicklungshilfe sind, die über die Jahre am besten performen. Lohnend wäre eine vergleichende Debatte, warum Länder mit ähnlich guten Startvoraussetzungen zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit so Unterschiedliches daraus gemacht haben. Das könnte allerdings nicht zuletzt in Lateinamerika und Afrika zu eher schmerzlichen Schlussfolgerungen führen.
Hinzu kommt, dass in vielen eindeutig hilfsbedürftigen Ländern jenseits unmittelbarer Nothilfe keinerlei Rahmenbedingungen existieren, die nachhaltige Entwicklung überhaupt möglich machen. Oft erpressen regionale „Eliten“ speziell westliche Länder mit ihrer eigenen Unfähigkeit: wenn ihr uns kein Geld gebt, geht leider das Klima vor die Hunde, Epidemien breiten sich aus und wir schicken euch Migranten … Die sambische Ökonomin Dambisa Moyo brachte das schon vor Jahren auf den Punkt: „Es liegt in erster Linie an den Führern der Länder, das Afrika so arm ist.“
Entwicklungshilfe bleibt wichtig – als Hilfe zur Selbsthilfe
Nicht nur diesen ist es längst wieder möglich, den Westen gegen autoritäre Konkurrenten wie Russland und China auszuspielen, während man gleichzeitig als „Globaler Süden“ auf der internationalen Bühne das große Wort führt. Die größten Geber werden da zu den größten Schurken, die man an das postkolonial schlechte Gewissen erinnern kann, während man bei Ländern wie Russland – ebenfalls mit einer langen kolonialen Vergangenheit ausgestattet – eher ein Auge zudrückt und bei den BRICS und anderswo gemeinsam lächelnd auf der Bühne steht. Dass diese „Argumentation“ verfängt, zeigt die aktuelle Diskussion auch in dieser Haushaltsdebatte. Keiner will im „globalen Systemwettbewerb“ zurückfallen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Entwicklungshilfe – gerade als „Hilfe zur Selbsthilfe“ – ist und bleibt wichtig, allerdings ist die Debatte mehr als überfällig, ob die aktuelle Art dieser Hilfe ihre Ziele erreicht und sich solche überhaupt klar gesetzt hat.
Was wir sehen ist zum Beispiel eine totale Zersplitterung der Ansätze, bei der es den einen Akteur nicht interessiert, was ein anderer tut. Fast jedes Ministerium in Deutschland bewirtschaftet mittlerweile sogenannte „ODA-Mittel“ und natürlich hat jedes erstmal eigene Bewirtschaftungs- und Abrechnungsmethoden dafür erfunden – etwas, das Mittler und Durchführungsorganisationen in Deutschland und vor Ort schon lange in den Wahnsinn treibt. Delegationen aus all diesen Ministerien schlagen dann in den Zielländer zu sogenannten Regierungsverhandlungen auf, die dort in ihrer Vielfalt Ratlosigkeit auslösen und sich um eher kleine Beträge drehen. Ressortabstimmung? Nicht wirklich. Wie sonst wäre es etwa in der vergangenen Legislaturperiode möglich gewesen, dass das Auswärtige Amt just zum selben Zeitpunkt die deutsche Präsenz mit seiner Asienstrategie stärken will, als das BMZ mittels korrigierter Länderliste fast alle asiatischen Länder aus der öffentlichen Förderung fallen lässt?
Apropos Strategien: Zu oft bestehen ihre Seiten aus 90 Prozent wirklich gelungener Zustandsbeschreibung – nur leider passen dann die Empfehlungen oft überhaupt nicht zu den Prioritäten der erkannten Herausforderungen. Vor dem Hintergrund springt selbst der immer wieder geäußerte Wunsch nach einer Zusammenlegung von BMZ und Auswärtigem Amt deutlich zu kurz.
Wirklich kreativ ist man überall vor allem im Erfinden neuer Begrifflichkeiten und klingender Namen für das eigene Bemühen. Jeder neue Minister, jede neue Ministerin möchte auch über „Sondermittel“ eine eigene Duftmarke setzen, nach Nachhaltigkeit fragt man besser nicht. Momentan ist es vor allem die feministische Entwicklungs- und Außenpolitik, die den Ton vorgibt und Budgetpositionen entsprechend priorisiert – selbst Experten tun sich dann schwer, zu erklären, was eigentlich wirklich praktisch gemeint ist. So werden vielerorts nur neue Etiketten auf das geklebt, was man ohnehin schon immer tut. Früher waren alle Entwicklungsmittel irgendwie relevant im „Kampf gegen den Terror“, heute sind es der Klimawandel, die Fluchtursachenbekämpfung oder eben die Frauen- und Vielfaltsförderung, die in keiner Begründung für ein Projekt fehlen dürfen. Entsprechend hoch ist der lyrische Reiz vieler Antragsbegründungen…
Deutschland steht da allerdings nicht allein: Wer erinnert sich noch an die „Lissabon-Strategie“ der EU, nach der der Kontinent schon längst der wettbewerbsfähigste Raum der Welt sein müsste. Auch von der mit viel Tamtam etablierten „Agenda 2030“ der UN mit ihren „Sustainable Development Goals“ – immerhin 17 Ziele mit 169 Indikatoren - hört man inzwischen auffallend wenig.
Und natürlich muss es längst „Entwicklungszusammenarbeit“ heißen, das klingt nicht so paternalistisch wie „Hilfe“, auch der Begriff „Augenhöhe“ fehlt selten, und ebenso wenig die Versicherung, dass alles mit den „Partnern“ verhandelt wurde.
Wenn man bei angeblichen "Partnern" genauer hinschaut
Manche von diesen Partnern, vor allem im NGO-Sektor, sind allerdings nicht unbedingt authentische Vertreter einer einheimischen Zivilgesellschaft, sondern werden maßgeblich von den internationalen Gebern gegründet, um an der Partnerillusion festzuhalten zu können. Echte EZ-Zombies also, die ihr Leben sofort aushauchen, wenn die internationalen Gelder nicht mehr fließen. Und vor Ort machen sie – ähnlich wie die UN- und andere internationale Organisationen – den lokalen Arbeitsmarkt kaputt, weil jeder dort für so gutes Geld anheuern möchte, wie es sich in der lokalen Wirtschaft kaum erzielen ließe. Ein Blick auf überförderte Gebiete – früher Teile Zentralamerikas, parallel viele afrikanische Staaten, zwischenzeitlich Afghanistan, traditionell die palästinensischen Autonomiegebiete oder nach dem „arabischen Frühling“ Tunesien – ist augenöffnend. Problematisch allerdings, wenn dann gefragt wird, was der geballte Einsatz auf überschaubarem Territorium denn eigentlich gebracht hat – insbesondere dann, wenn man vorher mit der enormen Wirkung von Entwicklungspolitik argumentiert hat. Die aktuelle Enquete-Kommission zu Afghanistan und der entsprechende Untersuchungsausschuss zum Abzugsdesaster könnten Gelegenheiten zu schonungsloser Aufarbeitung und anschließenden „lessons learned“ sein – allzu viel Optimismus aber verbietet sich wohl. Zu viele müssten sonst über zu viele eigene Fehler sprechen.
Die EU, an die erhebliche Mittel auch aus Deutschland weitergeleitet werden, ist dann noch mal ein eigenes Kapitel: sehr kurzatmig werden dort oft Projekte zugeteilt, nicht sehr transparent fallen „short lists“ aus, vor Ort entscheidet manchmal eher die Nationalität des jeweiligen EU-Botschafters darüber, welche Organisationen für die Durchführung den Zuschlag bekommen. Oft müssen Konsortien gebildet werden, um die Chancen auf ein Projekt zu erhöhen, ein Tummelplatz nicht zuletzt für das Consultingbusiness. Und kaum hat das Projekt begonnen, steht schon die erste Evaluierung an… - ein Beschaffungsprogramm für diesen ganz eigenen Industriezweig.
Gleichzeitig hat man das Antragswesen so kompliziert gestaltet, dass man in Brüssel Scouts braucht, die einen durch das Dickicht führen: bestimmt Zufall, dass das dann oft nach ihrer Pensionierung in den Consultingsektor gewechselte ehemalige EU-Beamte übernehmen. Und wenn die vorhandenen Mittel dann partout nicht abfließen, bleibt immer noch die sogenannte „Budgethilfe“: pauschale Überweisungen in die Etats der begünstigten Länder, von denen man dann vollmundig behauptet, die im Sinne der Entwicklung angestrebte Verwendung der Mittel werde natürlich überprüft.
Nun bleibt die Dimension öffentlicher Entwicklungshilfe überschaubar, nicht zuletzt im Vergleich zu privaten Finanzströmen, Rücküberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer oder ausländischen Direktinvestitionen. Man vergleiche auch nur einmal die aktuell knapp elf BMZ-Euro-Milliarden für die Rettung der halben Welt mit dem, was allein für den Wiederaufbau des winzigen Ahrtals veranschlagt wird. Kein Grund, von „peanuts“ zu reden oder bei einer sparsamen und effizienten Mittelverwendung Abstriche zu machen. Ein Grund aber, den Mund auch beim Kampf um Haushaltsmittel etwas weniger voll zu nehmen bezüglich dessen, was man realistischer Weise erreichen kann. Und Anlass, Kräfte zu bündeln, Zersplitterung zu reduzieren, Hebelwirkungen zu suchen.
Entwicklungspolitik ist kein isoliertes Politikfeld. Sie muss eingebunden sein in eine Gesamtstrategie internationaler Kooperation, seitens der Bundesrepublik Deutschland, aber auch seitens der EU. Koalitionen mit Willigen und Fähigen und nicht zuletzt „like-minded“ Partnern sind ein Grundgebot. Übereinstimmungen in grundlegenden Wertefragen sind wichtig, ihr Fehlen steht aber der Verfolgung gemeinsamer Interessen nicht unbedingt im Weg. Dies zeigen aktuell die Migrationsabkommen mit südlichen Anrainern des Mittelmeers.
Deutschland und die EU wirken glaubwürdiger, wenn sie eigene Interessen klar benennen und sich eindeutig in diesem Sinne verhalten. Das schließt eine gewisse Konditionierung ein: wenn Wohlverhalten nicht belohnt und Obstruktion nicht sanktioniert wird, kann man nicht erfolgreich sein.
Kommen eigene wirtschaftliche Interessen zur Geltung?
Nur ein Aspekt dabei: Das BMZ heißt mit vollem Namen „Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Obwohl es aber auch im Entwicklungsbereich Unternehmen sind, die Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, wird der Inhalt des ersten Teils des Namens traditionell eher stiefmütterlich behandelt, sehr zum Leidwesen der Wirtschaftsverbände und Regionalorganisationen der Wirtschaft. Auch die Dominanz von Durchführungsorganisationen wie der GIZ mit ihrem Geschäftsvolumen von rund vier Milliarden Euro und ihren weltweit rund 22.000 Mitarbeitern empfinden nicht alle als hilfreich. Es braucht eine viel engere Verzahnung und es ist keineswegs eine Schande, wenn deutsche wirtschaftliche Interessen – etwa im Rohstoffbereich – auch von Entwicklungskooperationen profitieren.
Gleiches gilt übrigens auch für die Zusammenarbeit im Militärischen: Wenn der Effekt einer extrem restriktiven Rüstungskontrollpolitik ist, dass uns eigentlich freundlich gesinnte Staaten auf chinesische, russische oder türkische Ausrüstung zurückgreifen und gleichzeitig der deutsche Einfluss vor Ort sinkt, weil man in „harter Währung“ nicht liefert, ist das kontraproduktiv. Gleichzeitig lohnt sich besonders, in die rechtsstaatliche Entwicklung auf der Welt massiv zu investieren, bei der Korruptionsbekämpfung zu helfen, Journalisten und Medien zu befähigen, ihren Job als „watchdogs“ wahrzunehmen und wache Zivilgesellschaften zu unterstützen: Entwicklung ist letztlich nichts, was man von außen induzieren kann, Entwicklung muss aus dem Innern der Gesellschaften kommen! Themen wie „good governance“ und „Demokratieförderung sind nicht aus der Zeit gefallen.
Es könnte sie aus rund fünfzig Jahren Entwicklungskooperation reichlich geben, die schon erwähnten „lessons learned“. Überall gibt es Expertinnen und Experten, die heute oder früher vor Ort geballte Erfahrung gesammelt haben. Trotzdem scheint es ein strukturelles Problem zu sein, wirklich lernen, etwas ändern und verbessern zu wollen. Dies liegt an konkreten Sektor- und Organisationsinteressen, aber auch an einer stark unterentwickelten Fehler- und Debattenkultur: Feuerwehrleute treten sich nicht gegenseitig auf den Schlauch, könnte man flapsig sagen. Man kritisiert nicht den „eigenen“ Minister, bringt nicht Kollegen gegen sich auf oder „benachbarte“ Organisationen, gefährdet nicht Folgeaufträge, profitiert selbst vom System. Dies aufzubrechen und offen zu diskutieren, auch dafür kann eine Haushaltsdebatte in Zeiten leerer Kassen gut sein.
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Frank Priess, Journalist und Politikwissenschaftler, sammelte über 35 Jahre lang im In- und Ausland Erfahrungen in der internationalen Zusammenarbeit.