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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 06.06.2024

FuW Finanz und Wirtschaft

Eine historische Chance für Südafrika

Nach dreissig Jahren Regieren hat der ANC in den Wahlen schwere Stimmverluste erlitten. Für das Land am Kap bedeutet das Ende seiner Dominanz den Beginn einer neuen politischen Ära. Sie birgt unverhoffte Gelegenheiten, aber auch grosse Gefahren.

Wolfgang Drechsler, Kapstadt

Seit dem Ende der Apartheid vor dreissig Jahren haben Wahlen in Südafrika stets die Eigenschaft gehabt, hundertprozentig vorhersehbar zu sein. Dank der tiefen Dankbarkeit und Loyalität vieler schwarzer Wähler gegenüber dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC) und seinem langen Kampf gegen die weisse Vorherrschaft wurde die Politik am Kap bislang völlig von der früheren Befreiungsbewegung dominiert. In jeder der sechs Wahlen seit 1994 gewann der ANC mehr als 60% der Stimmen – mit Ausnahme des letzten Urnengangs 2019, als die Partei unter dem gegenwärtigen Präsidenten Cyril Ramaphosa «nur» noch 57,5% errang.

Umso grösser ist für den ANC und seine Anhänger nun die Bestürzung über den Ausgang der siebten Parlaments- und Präsidentschaftswahl von Ende Mai. Dass die Partei des legendären Freiheitskämpfers Nelson Mandela nach dreissig Jahren Alleinherrschaft und einer oft katastrophalen Regierungsführung ihre absolute Mehrheit verlieren würde, war gemeinhin erwartet worden.

Gleichwohl hatten viele Experten mit einem Ergebnis zwischen 45 und 50% gerechnet, was dem ANC die Möglichkeit eröffnet hätte, durch den Zusammenschluss mit zwei kleineren, für ihn ungefährlichen Parteien eine absolute Mehrheit zu bekommen – und seine Politik des langsamen Niedergangs weitere fünf Jahre fortzusetzen.

Richtungsentscheid nötig

Das jedoch ist nun nicht länger möglich. Zu gross ist die Kluft zwischen der absoluten Mehrheit und den vom ANC errungenen 40%. Die heftige Wahlschlappe stellt Präsident Cyril Ramaphosa vor einen Richtungsentscheid, um den sich seine Partei seit Jahren herumdrückt: Soll der 71-Jährige eine wie auch immer geartete Koalition aus Pragmatikern schmieden, etwa mit der Hilfe der liberalen und von der Geschäftswelt bevorzugten Demokratischen Allianz (DA), die seit 2009 die Provinz Westkap mit ihrer Kapitale Kapstadt erfolgreich regiert?

Oder soll er sich angesichts der hohen Verluste auf seiner linken Flanke lieber mit einer der beiden Abspaltungen des ANC paktieren? Zumal beide seiner Partei ideologisch wie emotional viel näherstehen: zum einen die linksradikalen Wirtschaftlichen Freiheitskämpfer (EFF) unter Julius Malema, zum anderen die neue und in den Wahlen bereits enorm erfolgreiche Partei uMkhonto weSizwe (MK) von Ex-Präsident Jacob Zuma, die vergangene Woche aus dem Stand auf 15% aller Stimmen kam und damit hinter ANC und DA die drittstärkste Kraft im Land wurde.

«Eine Allianz mit den Linksradikalen würde die schlechten Instinkte im ANC wecken.»

Nach den bisherigen Erfahrungen kann als sicher gelten, dass eine Allianz mit den Linksradikalen all die schlechten Instinkte im ANC wecken und seine besseren verdrängen würde, etwa seine bisherige Verpflichtung zu einer gewissen fiskalischen Redlichkeit.

Die Folgen für das Land wären schlimm: eine stark an der Hautfarbe ausgerichtete Politik, die Enteignung von Farmen sowie noch mehr Korruption und Vetternwirtschaft, was wiederum zu hoher Inflation, hohen Zinsen und einer wertlosen Währung führen dürfte. Selbst die vorbildliche Verfassung wäre akut gefährdet. Der von der Justiz verfolgte Jacob Zuma hat nie ein Hehl daraus gemacht, sie abschaffen und durch afrikanisches Recht ersetzen zu wollen.

Dass eine solche Option direkt den Interessen der schwarzen Mehrheit zuwiderläuft, heisst nicht, dass eine Allianz mit den Linksradikalen nicht umgesetzt würde. Vor allem Befreiungsbewegungen offenbaren oft eine bemerkenswerte Irrationalität, wenn ihnen nach Jahrzehnten plötzlich die Macht entgleitet. Robert Mugabe im nördlichen Nachbarstaat Simbabwe und seine Vertreibung der weissen Grossfarmer sind ein besonders eindrückliches Beispiel dafür.

Börse und Währung unter Druck

Allein die Aussicht, dass es im Rahmen einer nun ebenfalls debattierten Regierung der Nationalen Einheit (GNU) auch zu einer Form der Zusammenarbeit des ANC mit der liberal-konservativen DA kommen könnte, die bei der Wahl 22% gewonnen hat, hat eine Panikreaktion der Märkte bislang verhindert. Allerdings gab der Bankenindex der Johannesburger Börse (JSE) in einer ersten Reaktion deutlich nach, als sich eine instabile Koalition unter Beteiligung linksradikaler Kräfte abzeichnete.

Auch die Währung geriet in den vergangenen Tagen angesichts der immer stärkeren Unsicherheit und der Aussicht auf eine labile ANC-Minderheitsregierung unter Druck. Denn eine solche Regierung müsste sich in Sachfragen immer neue Mehrheiten suchen, was einerseits höchst demokratisch ist, andererseits aber in einem wirtschaftlich und ethnisch tief gespaltenen Land wie Südafrika kaum lange halten dürfte.

Entsprechend gross ist die Besorgnis am Kap. Zumal der wohl wichtigste Grund für die heftige Wahlschlappe des ANC neben seinem verheerenden Leistungsausweis ausgerechnet in seinem früheren Präsidenten Jacob Zuma liegt, der Südafrika in seiner Amtszeit zwischen 2009 und 2018 plünderte und daraufhin vorzeitig vom ANC geschasst wurde.

Zumas Rückkehr

Mit seiner Rückkehr auf die politische Bühne vor sechs Monaten, diesmal als Chef seiner neuen, von den Zulus getragenen MK-Partei, hat der 82-Jährige dem ANC genau diejenigen Stimmen genommen, die dieser für eine weitere absolute Mehrheit im Land gebraucht hätte. Trotz seiner häufigen Skandale, trotz Staatsplünderung und haarsträubender Korruption hat Zumas Popularität zumindest unter seiner eigenen Volksgruppe der Zulus nicht im Geringsten gelitten.

Zumas Erfolg ist aber auch ein Indiz dafür, wie festgefügt die ethnischen Schablonen am Kap noch immer sind: Auch dreissig Jahre nach dem Ende der Apartheid hat Südafrika fast identische Verhältnisse wie damals – zwei Drittel der Bevölkerung (zu über 90% Schwarze) stehen fest hinter dem ANC oder einer seiner beiden radikalen Abspaltungen, das verbleibende Drittel unterstützt die liberale Opposition, die ihre Anhänger vor allem unter der wirtschaftsstarken weissen, aber auch den anderen Minderheitsgruppen des Landes hat. Unter den Schwarzen haben hingegen auch diesmal kaum 10% die liberale Variante gewählt.

Ebenso bedenklich für die Zukunft stimmt, dass die (schwarze) Bevölkerung in KwaZulu mehrheitlich für einen hoch korrupten Politiker votiert hat, der sein Land jahrelang geplündert und darüber dessen Zukunft akut gefährdet hat. Die Unterstützung Zumas durch die Volksgruppe der Zulus ist ein Musterbeispiel für die fast sklavische ethnische Loyalität, wie sie sich am Kap immer mehr Bahn bricht.

Neuer Schwung für Wirtschaftsreformen?

Sie ist aber auch Indiz für eine eher unreife Wählerschaft, die ethnische Loyalität und Hautfarbe noch immer über Kompetenz, Leistung und Verdienst stellt – und damit das normale Funktionieren einer Demokratie erschwert. Dieses Funktionieren besteht just darin, dass die Opposition von heute die Regierung von morgen ist – und umgekehrt.

Bei allen Gefahren könnte die nun eingeläutete Koalitionsära Südafrika aber dadurch nützen, dass sie mit neuen Konstellationen den seit Jahren feststeckenden Wirtschaftsreformen neuen Schwung verleiht. Nicht wenige Beobachter verweisen darauf, dass Koalitionsregierungen zwar zunächst eine Zeit der Instabilität einläuten, aber gleichzeitig der nächste Schritt in der demokratischen Evolution eines Landes sind.

Zweifelsohne bietet die neue Konstellation der Regierung bereits jetzt eine vielleicht einmalige historische Chance, das seit Jahren im Niedergang befindliche Land neu aufzustellen – und grundlegend zu erneuern. Doch auch das Gegenteil ist wahr: Südafrika steht vor einem Moment grösster Gefahr. Denn die bald zu treffende Entscheidung wird den Kurs des Landes auf lange Sicht festlegen.