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Beitrag vom 18.03.2024

NZZ

550 000 Franken Lösegeld für 300 Kinder

In Nigeria sind Entführungen insbesondere von Schulkindern ein Geschäft

Elena Panagiotidis

Precious Sim hatte Glück. Die damals 13-Jährige war im Juli 2021 zusammen mit mehreren Klassenkameraden aus einer Sekundarschule im Norden Nigerias entführt worden. Ihrer Mutter gelang es in den nächsten Tagen, das Lösegeld zusammenzubekommen. Sie verkaufte ihre wenigen Habseligkeiten, ein paar Töpfe, den Ventilator – und Familienmitglieder legten zusammen. Nach der Zahlung von umgerechnet 1250 Franken kam Precious Sim nach einem Monat in Gefangenschaft frei. Noch heute leidet das Mädchen unter Panikattacken, wie ihre Mutter der Nachrichtenagentur Reuters erzählte.

Entführungen sind in Nigeria mittlerweile trauriger Alltag. Nicht immer sind sie so spektakulär wie die Massenverschleppung Anfang März in Kuriga. Die schwerbewaffneten Entführer kamen kurz nach Schulbeginn. Sie umzingelten die Schule in dem Ort Kuriga im Nordwesten Nigerias und zwangen die rund 700 Schülerinnen und Schüler und deren Lehrer in ein nahes Waldstück. Zwar gelang vielen die Flucht, doch die Kidnapper entführten 286 Schülerinnen und Schüler sowie mehrere Angestellte der Schule.

Mit Tötung der Geiseln gedroht

Eine Woche nach der Tat meldeten sich die Entführer mit einer Lösegeldforderung. Wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf einen Stadtrat Kurigas berichtet, verlangen sie 1 Milliarde Naira (umgerechnet rund 550 000 Franken). Die Entführer stellten die Forderung während eines Anrufs mit unterdrückter Telefonnummer. Als Ultimatum nannten sie den 27. März und drohten mit der Tötung aller Geiseln.

Hassan Abdullahi, Vater von siebzehn Kindern, die entführt worden sind, sagte, die örtliche Bürgerwehr habe noch versucht, die Angreifer abzuwehren. Sie sei jedoch überwältigt worden. Er sei sehr traurig, dass die Regierung die Menschen in diesem Gebiet völlig vernachlässigt habe, so Abdullahi zu Reuters. Eltern und Einwohner machten die mangelhafte Sicherheitslage in der Region für die Entführung verantwortlich.

«Die Stimmung im Land ist sehr angespannt», sagt Marija Peran, Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Nigeria, am Telefon. Entführungen gehörten in Nigeria seit ein, zwei Jahren zur Tagesordnung. Zwar sei es auch zuvor immer wieder zu Entführungen gekommen, doch mittlerweile habe sich die Praxis fast auf das ganze Land ausgebreitet und zu einem lukrativen Geschäftsmodell entwickelt. Entführungen seien ein Mittel zur Terrorismusfinanzierung, zum Beispiel bei Boko Haram. Auch die schwierige wirtschaftliche Lage spiele eine Rolle. Für manche seien Entführungen schlicht eine Geldeinnahmequelle zum Überleben. Häufig seien es grosse, gut organisierte Banden, die die Bevölkerung terrorisierten. «Entführungen wie in Kuriga sind logistisch anspruchsvoll und professionell organisiert», sagt Peran.

Nicht immer stecke Ideologie hinter den Entführungen. Manchmal gehe es auch darum, einem politischen Gegner zu schaden. Im Fall der jüngsten Entführung von Kuriga, wo sich noch niemand zur Tat bekannt hat, werde diskutiert, ob damit dem ehemaligen Gouverneur des Gliedstaates Kaduna geschadet werden solle. Dieser strebt einen Ministerposten an.

Ende Februar wurden im nordöstlichen Teilstaat Borno Dutzende von Binnenvertriebenen entführt. Es soll sich mehrheitlich um Frauen und Kinder handeln, die ausserhalb eines Lagers Brennholz sammelten. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass über 200 Menschen verschleppt wurden. In dieser Region ist vor allem die Terrororganisation Boko Haram aktiv.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte Anfang Jahr den nigerianischen Präsidenten Bola Tinubu auf, die zunehmenden Entführungen im Land als Notfall zu behandeln und Massnahmen dagegen zu ergreifen. Dies, nachdem in einer Januarwoche 45 Personen, die im südöstlichen Gliedstaat Benue unterwegs waren, verschleppt worden waren. Selbst in der Hauptstadt Abuja, wo das Militär sehr präsent ist, sind die Menschen vor Entführungen nicht sicher. Anfang Januar wurden dort ein Vater und seine sechs Töchter entführt. Es kam zu einer Crowdfunding-Aktion, um das Lösegeld zu bezahlen. Die Entführer töteten allerdings eines der Mädchen und forderten danach noch mehr Geld.

Lösegeld ist ein stark diskutiertes Thema im Land. «Wenn gezahlt wird, werden die Opfer meistens freigelassen», sagt Peran. Doch für die meisten Nigerianer sei es schwierig, die inzwischen horrenden Summen zusammenzubekommen. «Dann stehen die Chancen schlecht.»

Vor knapp zwei Jahren erliess die nigerianische Bundesregierung ein Gesetz, das die Zahlung von Lösegeld unter Strafe stellt. «Der Aufschrei war gross, die Wirkung gering. Wer das Geld zusammenkriegt, der zahlt», sagt Peran. Bisher sei noch niemand auf Grundlage des Gesetzes verurteilt worden.

Die Sicherheitskräfte haben den Kidnappern nicht viel entgegenzusetzen. Auch wenn Nigeria eine Föderation von Gliedstaaten ist, wird der gesamte Sicherheitsapparat zentral von der Hauptstadt aus organisiert. «Die Sicherheitskräfte sind allein dadurch gebremst, dass sie die Befehlskette aus Abuja abwarten müssen. Das ist ein riesiges Problem in der Praxis.» Überlappende Zuständigkeitsbereiche erschwerten die Situation. Zwar gebe es im Militär, in der Polizei und in der per Gesetz errichteten paramilitärischen Einheit gut ausgebildete und ausgestattete Truppenteile. Doch auf die Breite des riesigen Landes gebe es viel zu wenige und zu wenig gut ausgebildete Sicherheitskräfte. Dass diese auch noch schlecht bezahlt würden, erhöhe die Anfälligkeit für Korruption, sagt Peran.

Laut Aussagen von Einwohnern geraten Zivilisten zudem immer wieder zwischen die Fronten im Kampf zwischen der nigerianischen Armee und Boko Haram.

Nur im bewaffneten Konvoi

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten und auch das Auswärtige Amt in Deutschland warnen ausdrücklich vor Reisen in einzelne Landesteile Nigerias wegen des «hohen Risikos von politischen und kriminellen Entführungen». Reisen sollten möglichst nicht auf dem Landweg durchgeführt werden und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Unausweichliche Fahrten sollten nur mit einer bewaffneten Eskorte in Angriff genommen werden.

Laut der BBC-Korrespondentin Mayeni Jones sind die jüngsten Massenentführungen ein Zeichen dafür, dass die islamistische Terrororganisation Boko Haram noch immer eine grosse Bedrohung für die Bevölkerung im Nordosten Nigerias darstellt.

International finden die Entführungen wenig Beachtung. Anders war dies vor zehn Jahren, als im April 2014 Boko-Haram-Terroristen 276 Schülerinnen einer staatlichen Sekundarschule in Chibok verschleppten. Die Bewaffneten gaben sich als Angehörige der nigerianischen Armee aus, zwangen die Mädchen auf Lastwagen und verschleppten sie in den Dschungel. Die Entführung sorgte damals international für Aufsehen, die Aussenminister der EU und der damalige amerikanische Präsident Barack Obama verurteilten die Tat. In den sozialen Netzwerken wurde unter dem Hashtag #BringBackOurGirls die Freilassung der Mädchen gefordert.

Während eine Handvoll der Teenager fliehen konnte, blieben die meisten Mädchen über zwei Jahre in der Gewalt der Entführer, waren mutmasslich Vergewaltigungen ausgesetzt und wurden gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Laut Amnesty International befanden sich 2023 noch immer 98 der im Jahr 2014 entführten Schülerinnen in der Gewalt der Terrormiliz Boko Haram.