Beitrag vom 26.12.2023
NZZ
«Die Zeit der grossen Uno-Friedensmissionen in Afrika geht zu Ende»
Malis Putschregierung hat die Minusma, eine der grössten und gefährlichsten Uno-Missionen in Afrika, aus dem Land geworfen. Trotz gegenteiligen Behauptungen der Militärs bedeutet dies für die Bevölkerung eine weitere Verschlechterung der desolaten Lage, sagt der Sahel-Experte Ulf Laessing.
Dominique Burckhardt
Im Juni hat Malis Militärregierung die Uno zum Abzug ihrer Friedensmission Minusma aufgefordert. Diese war ab 2013 im Einsatz und galt als eine der grössten und gefährlichsten Uno-Missionen in Afrika. Bis Ende Dezember werden die letzten der mehr als 12 000 Blauhelmsoldaten das Land verlassen haben. Malis Militärs werten das als Erfolg, obwohl sie genau wissen, dass sie ohne die Minusma Probleme haben werden, den Norden und das Zentrum des riesigen Sahelstaates kontrollieren zu können. Dort terrorisieren Jihadisten die Bevölkerung und dringen immer weiter gegen Süden in Richtung Hauptstadt vor.
Herr Laessing, Sie leben in Malis Hauptstadt Bamako. Wie sieht die Öffentlichkeit das Ende der Uno-Mission?
In Bamako unterstützen viele den Abzug der Minusma, denn sie lassen sich von dem instrumentalisieren, was die Regierung sagt. Und Malis Putschisten machen seit langem Stimmung gegen Frankreich und den Westen.
Wie ist die Stimmung im Rest des Landes?
Ausserhalb der Hauptstadt, vor allem im Zentrum und im Norden Malis, werden sehr viele Menschen die Minusma vermissen. Die Mission beschäftigte Tausende. Sie ersetzte praktisch den Staat, indem sie sich um Schulbildung, Brunnenbau und andere Dienstleistungen kümmerte. Damit sorgte sie für eine gewisse soziale Stabilität. Nun werden viele arbeitslos. Es ist eine soziale Bombe, die hochgehen wird. Auch ich bekomme inzwischen Anrufe von Leuten, die vor dem Nichts stehen. Vermutlich werden sich nun einige kriminellen Banden oder Jihadisten anschliessen, denn es gibt keine andere Lebensgrundlage.
Der Abzug der Uno-Soldaten vergrössert also die Unsicherheit in Mali.
Grosse Städte wie Mopti, Gao oder Timbuktu waren nur einigermassen sicher, weil die Minusma dort Stützpunkte hatte. Deshalb konnten dort auch Schulen geöffnet haben. Prekär wird die Lage nun auch für Binnenflüchtlinge aus ländlichen Regionen, die vor Kämpfen mit dem Islamischen Staat oder al-Kaida in die Städte geflohen waren. Sie werden nach dem Abzug der Minusma nicht mehr sicher sein. Dies wird auch zu mehr Migration in die Nachbarländer und zum Teil wohl bis ans Mittelmeer führen.
Malis Regierung aber behauptet, sie sei sehr erfolgreich bei der Wiederherstellung von Sicherheit.
Die Armee nahm kürzlich tatsächlich die Stadt Kidal in Nordmali ein, die frühere Hochburg der abtrünnigen Tuareg. Der Staat hatte zehn Jahre lang keine Kontrolle über Kidal gehabt; in Bamako hat dieser Sieg die Zustimmung zur Regierung weiter steigen lassen. Der Erfolg hat jedoch einen sehr hohen Preis, denn er gelang nur mithilfe von Wagner-Kämpfern. Und überall, wo Wagner-Kämpfer auftreten, gibt es Berichte über Übergriffe auf und Tötungen von Zivilisten. Ein Geländegewinn bringt wenig, wenn dabei sehr viele Zivilisten getötet werden. Die Überlebenden sind dann potenziell Leute, die sich Jihadisten-Gruppen anschliessen. Insgesamt sehe ich die Entwicklung der Sicherheitslage eher negativ, seit die Militärs die Macht übernommen haben.
«Ein Geländegewinn bringt wenig, wenn dabei viele Zivilisten getötet werden. Überlebende schliessen sich dann den Jihadisten an.»
Die Putschisten-Regierung begründet ihre Abzugsforderung umgekehrt damit, dass die Uno-Soldaten, die seit 2013 in Mali sind, nichts zur Verbesserung der Sicherheitslage beigetragen hätten. Aber war das überhaupt der Auftrag der Uno-Friedensmission?
Es gab dieses grosse Missverständnis zwischen Mali und der Uno. Mali wollte immer eine robuste Uno-Truppe, die aktiv Jihadisten bekämpfen würde, so, wie das vor der Uno die Franzosen mit der Opération Serval getan hatten. Aber das war nicht der Auftrag der Minusma. Malis Regierung hat diesen Widerspruch ganz bewusst nie aufgelöst, weil ja letztlich sie für die Sicherheit ihrer Bevölkerung zuständig wäre. Sie wollte ihr eigenes Versagen erst den Franzosen und dann der Minusma in die Schuhe schieben.
Was war der Auftrag der Minusma?
Die Uno-Mission sollte ein Friedensabkommen mit umsetzen, das die Regierung 2015 mit den ehemaligen Tuareg-Rebellen geschlossen hatte. Die Rebellen hatten 2012 den Norden Malis erobert, bis die Franzosen sie vertrieben. Die Minusma sollte Teil der politischen Lösung dieses Konflikts sein. So sollten die ehemaligen Rebellen entwaffnet und in die malische Armee integriert werden. Zudem sollte die Minusma örtliche Friedensabkommen herbeiführen; in Mopti zum Beispiel gab es eine Einheit der Minusma, die zwischen Bauern und Viehhirten vermitteln sollte, die sich häufig um Land und Wasser streiten.
Das Abkommen von 2015 konnte aber nicht umgesetzt werden.
Nein, vor allem deshalb nicht, weil sich beide Seiten stark misstrauen. Im Süden Malis gibt es grosse Vorbehalte gegenüber den Arabern und den Tuareg im Norden. Diese wiederum fühlten sich immer schon vernachlässigt und verlangen eine Dezentralisierung des Staates. Das war auch Teil des Abkommens, wurde aber von Bamako nie umgesetzt. Die Minusma hatte nie die Chance, ihren eigentlichen Auftrag zu erfüllen.
Hätte die Uno-Mission die Putsche der malischen Militärs 2020 und 2021 nicht voraussehen und verhindern müssen?
Nein, das waren immer schon zwei Welten. Die Minusma war im Norden und später auch im Zentrum Malis aktiv. Damit, was in der Hauptstadt geschah, hatte sie wenig zu tun. Die Vorgängerregierung der Putschisten war sehr unfähig und korrupt. Die politische Elite ist historisch seit je sehr am Machterhalt interessiert und hat sich nie dafür interessiert, was im Rest des Landes passiert.
Woran liegt das?
Diese Länder im Sahel sind so etwas wie eine Fehlgeburt, sie haben den Zentralismus von Frankreich übernommen, so etwas wie einen Staat gab es nur in der Hauptstadt, die ländlichen Regionen wurden nie entwickelt. Auch ist das Parlament sehr schwach, die Regierenden wurden nie kontrolliert. Darüber sind sehr viele Leute in Ländern wie Mali, Niger, Burkina Faso so verärgert, dass sie sich bewaffneten Gruppierungen anschliessen oder Militärputsche gutheissen. Allerdings merken sie allmählich, dass auch die Bilanz der Putschregierungen nicht gut ist. An ihren Lebensverhältnissen hat sich nichts verbessert.
Was bedeutet der faktische Rauswurf aus Mali für andere Friedensmissionen der Uno in Afrika?
Die Zeit der grossen Friedensmissionen geht zu Ende. Sie kosten sehr viel Geld, doch die Ergebnisse sind meist bescheiden. Die grossen Friedensmissionen hatten auch strukturelle Defizite. In Mali etwa waren sehr viele Soldaten aus anderen afrikanischen Ländern im Einsatz, die gar keine richtigen Soldaten waren, sondern einfach von ihren Regierung dort hingeschickt wurden, weil es für den Einsatz sehr viel Geld gab.
Gäbe es Alternativen zu den Friedensmissionen? Oder soll Europa Staaten wie Mali einfach sich selbst überlassen?
Die Europäer sind im Sahel schon noch aktiv. Die Frage ist weniger, ob Europa etwas machen will, sondern ob Europa noch etwas machen kann – also ob die Europäer noch willkommen sind. Zumal mit Russland, der Türkei und China andere Staaten auftreten, die ebenfalls Einfluss nehmen wollen. Die Russen zum Beispiel führen eine geschickte Kampagne in den sozialen Netzwerken, mit der sie sich als Land ohne koloniale Vergangenheit darstellen und eine neue Art von Partnerschaft anbieten.
Das kommt offensichtlich an.
Die wenigsten Menschen in Mali kennen Russland, sie haben nicht wirklich den Wunsch, mit Russland zusammenzuarbeiten. Doch noch kanalisieren die Russen die öffentliche Unzufriedenheit ganz geschickt.
Der deutsche Historiker und Islamwissenschafter Ulf Laessing leitet das Regionalprogramm Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung und lebt in der malischen Hauptstadt Bamako. Der frühere Journalist befasst sich intensiv mit den Themen Konflikte und Militärmissionen, politische Transformation, Terrorismus und Jihadisten. Laessing hat zudem ein Buch über den Libyen-Konflikt geschrieben.