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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 24.10.2023

NZZ

Afrikas Gesundheitspersonal wandert aus

Eine Ärztin und einen Pfleger aus Nigeria zieht es nach Grossbritannien – sie haben genug von maroden Spitälern und Tiefstlöhnen

Samuel Misteli, Lagos, und Niklaus Nuspliger, Gillingham

«Viele von uns haben den Staat aufgegeben», sagt die Ärztin Freydah Shinkut.

Freydah Shinkut klickt sich auf dem Laptop durch Fotos. Sie zeigen Hände mit unappetitlichen Hautrötungen: «Osler-Knötchen», steht unter den Bildern oder: «Janeway-Läsionen». Shinkuts Pult ist umstellt von einem Büchergestell, einem Bügelbrett und einem Ventilator. Hie und da fällt der Strom aus in dem kleinen Büro, der Ventilator stoppt, und die Hitze von Lagos, Nigerias Megametropole, füllt den Raum. Freydah Shinkut ist 31 und Ärztin, doch gerade ist sie wieder Studentin. Sie lernt für die Prüfung, in der sie beweisen muss, dass ihr Fachwissen genügt, um Nigeria zu verlassen.

Geht alles gut, ist sie noch in diesem Jahr weg aus Lagos, wo sie im Haus ihrer Schwester in einem kleinen Zimmer wohnt. Bis vor wenigen Monaten musste sie um 5 Uhr morgens los zur Arbeit in einem Spital. Es liegt 30 Kilometer entfernt in einer reichen Gegend der Stadt, das sind drei Stunden im Morgenverkehr von Lagos.

Oft stand sie den ganzen Tag im Operationssaal, assistierte Chirurgen und war erst um 23 Uhr zu Hause. Für umgerechnet 15 Franken pro Tag – ein guter Lohn für eine nigerianische Ärztin, aber zu wenig, um sich eine Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes leisten zu können. Deshalb will Freydah Shinkut gehen, nach England. Und sie ist nicht die Einzige.

Schlafen im Sprechzimmer

Zehntausende von Ärztinnen und Pflegern verlassen Nigeria jedes Jahr. Der Ärzteverband von Afrikas bevölkerungsreichstem Land schätzt, dass Nigeria jede Woche mindestens 50 Ärzte verliert. Rund 6000 sind allein seit 2015 nach Grossbritannien ausgewandert. Bei den Pflegerinnen und Pflegern sind die Zahlen noch höher: Mehr als 7000 sind allein zwischen März 2021 und März 2022 nach Grossbritannien gegangen.

Angestellte des nigerianischen Gesundheitswesens haben genug davon, in maroden Spitälern und Praxen zu arbeiten, in denen Instrumente und Medikamente fehlen und das Personal so knapp ist, dass die Arbeit kein Ende nimmt. Und das zu einem Lohn, der oft nur gerade das Existenzminimum deckt.

Dabei ist Nigeria keine Ausnahme in Afrika. In Simbabwe schätzt die Regierung, dass seit 2021 mehr als 4000 Ärztinnen und Pfleger dem Land den Rücken gekehrt haben – ein Sechstel des Gesundheitspersonals. In vielen Ländern des Kontinents streiken Ärzte und Pflegepersonal aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen, in Nigeria zuletzt im Juli.

Freydah Shinkut kann viele Anekdoten erzählen, die sie in der Summe zum Auswandern gebracht haben. Im Praktikum wurde sie während Monaten nicht bezahlt und schlief im Sprechzimmer, weil sie sich keine Unterkunft leisten konnte. Nach einer Covid-Erkrankung zog ihr das Spital das Gehalt für die Krankentage ab. Einmal musste sie eine Patientin operieren, obwohl sie dafür noch nicht qualifiziert war. Der leitende Arzt im Spital schrie sie so regelmässig an, dass Mitarbeiter ihr rieten zu kündigen.

Shinkut spricht von einem «Trauma», wenn sie über ihre Arbeit in Nigeria spricht. In der Medizin ist ein Trauma eine Verletzung des Körpers oder der Psyche. Shinkut hat Dutzende dieser Verletzungen, wie die allermeisten nigerianischen Ärztinnen und Ärzte.

Die Probleme liegen tiefer

Dysfunktional ist in Nigeria nicht nur das Gesundheitssystem. Die Lebenserwartung liegt bei 53 Jahren, es ist eine der tiefsten in Afrika. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in Armut, nur etwas mehr als die Hälfte verfügt über Strom. Nicht nur das Gesundheitspersonal läuft davon. «Viele von uns haben den Staat aufgegeben», sagt Freydah Shinkut.

Shinkut möchte Orthopädin werden. Ihr gefällt das Knochenflicken. Und dass die Arbeit gut bezahlt ist. Doch vor allem möchte sie in einem Land leben, in dem der Strom funktioniert und das Wasser fliesst, «einem Ort, wo der Bus pünktlich fährt und es meine Schuld ist, wenn ich ihn verpasse». Einem Ort, wo harte Arbeit belohnt werde. Sie hofft, dass Grossbritannien dieses Land ist.

«Kette der Armut durchbrechen»

Jonathan Taimako ist schon da, wo Freydah Shinkut hinwill. Im April ist er nach Gillingham gezogen, 65 Kilometer südlich von London. Die Stadt hat 100 000 Einwohner, in Lagos wäre das ein Quartier. Das Wetter war kühl, als er ankam, und die Strassen waren leer. Das machte ihm zu schaffen. In den ersten Wochen stellte ihm das Spital, in dem er arbeitet, eine Unterkunft zur Verfügung. Dann fand er ein überteuertes Zimmer bei einer nigerianischen Wirtin in einem viktorianischen Reihenhaus.

Dennoch ist Jonathan Taimako in England angekommen. Er schreitet zielstrebig durch das Labyrinth der Korridore des Medway Maritime Hospital. Das vor mehr als hundert Jahren für Angehörige der britischen Marine gegründete Spital ist heute das grösste Krankenhaus der Grafschaft Kent. Der 30-jährige Pfleger Taimako kümmert sich seit einigen Wochen auf der Überwachungsstation um Kranke und Verletzte, die nach einer Operation aus der Narkose erwachen. Er will ihnen den Aufenthalt im Spital so angenehm wie möglich machen.

In Nigeria hatte sich Taimako als Anästhesiepfleger zu spezialisieren begonnen, bevor er sich zum Auswandern entschloss. Für seine Familie in einem Dorf südlich der Hauptstadt Abuja gilt Taimako dank seiner Ausbildung als Versorger. Dabei verdiente er kaum genug, um seine Rechnungen zu bezahlen. «Ich träumte davon, ins Ausland zu gehen und die Kette der Armut zu durchbrechen», sagt er.

Taimako durchforstete im Internet Hunderte von britischen Stellenangeboten und schrieb Dutzende von Bewerbungen, bis ihm das Medway Maritime Hospital ein Angebot machte. Danach ging es schnell. Das Spital trat beim Visumsantrag als Sponsor auf, die britischen Behörden stellten die Dokumente innert weniger Tage aus. Nachdem Taimako auch den Sprachtest und die fachliche Eignungsprüfung bestanden hatte, ging die Reise los.

Für Grossbritannien entschied er sich aus sprachlichen Gründen; zudem hat das Land die Hürden für Pfleger und Ärzte aus Nigeria gesenkt. Seit dem Brexit können EU-Bürger nicht mehr frei ins Vereinigte Königreich einwandern, was den akuten Mangel an medizinischem Personal verschärft hat.

Nun rekrutiert der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) Ärztinnen und Pfleger nicht mehr in Spanien oder Polen, sondern vorzugsweise in den Philippinen oder in ehemaligen Kolonien wie Indien oder Nigeria. Da Grossbritannien zu wenig Gesundheitspersonal ausbildet, wäre der chronisch überlastete NHS ohne Migranten gar nicht mehr funktionsfähig. Dennoch sind 133 000 Stellen unbesetzt.

Dreissigfach höherer Lohn

In vielen Industrieländern mangelt es an Gesundheitspersonal. Die Corona-Pandemie hat die Situation verschärft, überarbeitete Pflegerinnen und Pfleger quittierten den Dienst. In die Ausbildung zu investieren, ist wesentlich teurer und langwieriger als der Import von Arbeitskräften.

Belgien, Irland oder Luxemburg haben Schnellverfahren eingeführt, um die Diplome ausländischer Pflegefachkräfte zu prüfen. Deutschland will in Migrationszentren in Afrika und Asien Gesundheitspersonal anwerben. Frankreich möchte mit einer Gesetzesreform gleichzeitig die irreguläre Migration bremsen und ausländisches Gesundheitspersonal anlocken.

Afrikas Pflegerinnen und Ärzte gehen nicht nur, weil sie genug haben von den Bedingungen in ihren Heimatländern. Sie gehen auch, weil sie in Europa gebraucht werden. Und sie sind bereit, zu weniger komfortablen Bedingungen zu arbeiten als die Berufskollegen aus den reichen Ländern.

Jonathan Taimako zum Beispiel ist längst nicht der einzige Einwanderer im Spital in Gillingham. Auf dem Weg von der Überwachungsstation im zweiten Untergeschoss hinaus in den Park vor dem Spital bleibt er immer wieder kurz stehen und begrüsst asiatische oder afrikanische Kolleginnen und Kollegen. Mit 28?000 Pfund ist Taimakos Einstiegslohn tiefer angesetzt als das Durchschnittssalär des britischen Pflegepersonals – dieses beträgt 33 000 Pfund (knapp 37 000 Franken). In England macht man damit keine grossen Sprünge. Das britische Gesundheitspersonal hat in den vergangenen Monaten mehrfach für höhere Gehälter gestreikt. Doch ist Taimakos Lohn dreissigmal so hoch wie zuvor in Nigeria. Das ermöglicht ihm, Geld nach Hause zu schicken.

In England, sagt Taimako, habe er mehr Zeit, um sich den Patienten zu widmen. Trotz der Krise beim NHS kommen im Vereinigten Königreich auf 1000 Einwohner noch immer 9 Pfleger. In Nigeria sind es gerade einmal 1,5. Taimako erlebt die englischen Patientinnen und Patienten als freundlich – auch wenn es gar nicht so einfach sei, ihren Akzent zu verstehen.

Plünderung statt Sanierung

Ist es unmoralisch, wenn wohlhabende Länder Zehntausende von vergleichsweise teuer ausgebildeten Pflegern und Ärztinnen aus Ländern rekrutieren, deren Gesundheitssysteme ohnehin darben? Eine simbabwische Autorin schrieb für den arabischen Nachrichtensender al-Jazeera, statt das eigene Gesundheitssystem zu sanieren, plündere Grossbritannien Fachkräfte in afrikanischen und vergrössere dort die Probleme in der Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig spreche Grossbritannien Entwicklungshilfe, um in Afrika «resiliente Gesundheitssysteme» zu fördern. Das sei Heuchelei.

Besorgt sind auch die Internationale Organisation der Krankenpfleger und die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die WHO führt eine «rote Liste» mit 55 Ländern, deren Gesundheitssysteme durch die Abwanderung von Personal gefährdet sind. 37 der 55 Länder auf der Liste liegen in Afrika, unter ihnen auch Nigeria.

Grossbritannien unterlässt «aktive Rekrutierungen» aus Ländern auf der «roten Liste». Das heisst, der NHS verzichtet darauf, über Agenturen gezielt Gesundheitspersonal aus Nigeria abzuwerben. Wenn sich aber Ärztinnen und Pfleger wie Freydah Shinkut oder Jonathan Taimako von sich aus auf ein Stelleninserat melden, steht der Anstellung aus britischer Sicht nichts im Wege.

Die betroffenen Länder reagieren auf die Abwanderung oft wütend. Simbabwes Gesundheitsminister will gesetzlich gegen das Abwerben von medizinischem Personal vorgehen: «Wenn Leute in Spitälern sterben, weil die Pfleger und Ärzte von Ländern geholt wurden, die so verantwortungslos waren, keine eigenen Leute auszubilden, ist das ein Verbrechen», sagte der Minister im April.

Auch in Nigeria haben Parlamentarier ein Gesetz eingebracht, das Ärztinnen und Ärzten die volle Zulassung erst erteilen würde, wenn sie nach der Ausbildung mindestens fünf Jahre im Land gearbeitet haben.

«Für das absolute Minimum»
Freydah Shinkut, die Ärztin in Lagos, will sich nichts von Politikern vorschreiben lassen, die sich in Europa behandeln lassen, weil sie den einheimischen Spitälern misstrauen. Nigerias 71-jähriger Präsident Bola Tinubu zum Beispiel reiste im Frühjahr zweimal für Behandlungen nach Frankreich.

Im Schnitt betragen die Gesundheitsausgaben der Staaten in Subsahara-Afrika 5 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts – weniger als die Hälfte des globalen Durchschnitts. «Die Politiker sitzen auf ihrem Thron, während wir für das absolute Minimum kämpfen», sagt Shinkut. «Sie sollen zuerst das Land sanieren, dann kommen die Leute von selber zurück.»

Die Zulassungsprüfung hat Freydah Shinkut inzwischen abgelegt. Es lief gut. Sie sagt: «Ich fühle mich schlecht, weil ich meine Familie zurücklasse. Aber nicht wegen Nigeria.»