Beitrag vom 04.10.2023
NZZ
Warum kommen gerade so viele Migranten über das Mittelmeer?
Die Zahl der Menschen, die die gefährliche Route auf sich nehmen, hat sich innert eines Jahres fast verdoppelt
Samuel Misteli, Nairobi
Es ist die gefährlichste Migrationsroute weltweit – und trotzdem nehmen sie jeden Tag Hunderte von Menschen auf sich. 186 000 Personen seien in diesem Jahr bisher über das zentrale Mittelmeer nach Europa gereist, gab das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ende September bekannt. Das sind fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. 2500 Personen verloren bei der Überfahrt ihr Leben oder werden vermisst. Die meisten Migrantinnen und Migranten – mehr als 100 000 – legten in diesem Jahr in Tunesien ab und reisten nach Italien (in der Regel zur nur 130 Kilometer entfernten Insel Lampedusa).
Weshalb kommen auf einmal wieder so viele Migranten übers Mittelmeer? Und was hat das mit Migrationsbewegungen in Westafrika zu tun? Fünf Fragen und Antworten.
Wieso steigen die Zahlen auf der zentralen Mittelmeer-Route?
Auf den meisten Migrationsrouten nach Europa ist die Zahl der irregulären Grenzübertritte stabil geblieben oder zurückgegangen. Durch den Balkan reisen deutlich weniger Migranten als im Vorjahr. Das liegt daran, dass die EU ihre Grenze im Südosten stark überwacht und die Grenzschützer entschlossen und auch mit illegalen Pushbacks gegen Migranten vorgehen. Der Landweg über den Balkan ist zudem teuer und führt über zahlreiche Grenzen. Deshalb wählen mehr Migranten den Weg über das Mittelmeer – aus Libyen und Tunesien. Aus Libyen reisten in diesem Jahr allerdings nur halb so viele Migranten (45 000, Stand Ende September) wie aus Tunesien. Das liegt daran, dass die von der EU unterstützte libysche Küstenwache Boote mit Migranten konsequenter abfängt als früher.
Das Schleppergeschäft hat sich deshalb in den vom Warlord Khalifa Haftar beherrschten Osten des Landes verlagert. Seit dieser im Mai von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Rom empfangen wurde, fangen seine Milizen aber auch konsequenter Migranten ab. Tunesien ist eine naheliegende Alternative.
Welche Rolle spielt die Situation in Tunesien?
Die Verlagerung von Migrationsrouten Richtung Tunesien genügt aber nicht, um die stark gestiegenen Zahlen zu erklären. Die Abfahrten aus dem Land haben sich vervielfacht. Das liegt wesentlich an der Situation im Land selber. Tunesiens Präsident Kais Saied machte Migranten aus Subsahara-Afrika im Februar zu Sündenböcken für die desolate Wirtschaftslage. Er sprach von «Horden illegaler Einwanderer», die das Land mit Gewalt überzögen. Seither haben sich Angriffe auf Migranten gehäuft. Die tunesischen Behörden haben afrikanische Migranten auch in die Wüste an der libyschen Grenze deportiert, wo mehrere von ihnen starben. Die feindselige Stimmung in Tunesien führte dazu, dass viele Afrikaner nach Italien übersetzten.
Kurzfristig kontraproduktiv hat sich auch das Abkommen ausgewirkt, das die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen im Juni mit Präsident Saied vereinbarte. Für einen verbesserten Grenzschutz versprach sie dem Land 900 Millionen Euro. Der Pakt hat offenbar Torschlusspanik bei Migranten in Tunesien ausgelöst – und die Zahl der Überfahrten weiter hochgetrieben. Dazu kam, dass das Wetter auf dem Meer während Monaten gut war.
Aus welchen Ländern kommen die Migranten?
Die grössten Gruppen der in Italien Angekommenen sind Migranten aus Guinea und Côte d’Ivoire – mit je etwa 15 000 (Stand Ende August). Es folgen auf Platz drei 12 300 Tunesier – sie stellten im August die grösste Gruppe. Viele Guineer und Ivoirer hielten sich schon seit längerem in Tunesien auf. Sie arbeiteten dort oder studierten. Laut den tunesischen Behörden sind 21 000 Personen aus Subsahara-Afrika im Land registriert, hinzu kommt eine ähnlich grosse Zahl nicht registrierter Migranten. Von den offiziell Registrierten sind die Hälfte Studenten.
Viele der Afrikaner, die in Tunesien lebten, sind nun nach Italien weitergereist. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Guineer und Ivoirer als der grössten Gruppen in den nächsten Monaten zurückgeht, wenn der von der xenophoben Welle in Tunesien ausgelöste Exodus den Zenit überschreitet. Summiert man die Zahlen seit Anfang 2021, liegen Tunesier, Ägypter und Bangalen vor den Bürgern der beiden westafrikanischen Länder.
Wieso sind westafrikanische Länder so stark vertreten?
Westafrika und den Maghreb verbindet eine lange Migrationsgeschichte. Ende der 1990er Jahre, als das Migrationsregime in Nordafrika noch freizügiger war, hielten sich über eine Million Subsahara-Afrikaner in Libyen, Algerien, Tunesien und Marokko auf. Afrikaner reisten nicht nur zur Arbeit in die afrikanischen Mittelmeerländer, sondern auch für Spitalaufenthalte.
Dass Guinea und Côte d’Ivoire jetzt die meisten Migranten stellen, liegt nicht daran, dass diese Länder von besonders heftigen Krisen erschüttert würden. Côte d’Ivoire ist ein Wirtschaftsmotor in Westafrika – unter anderem dank der Produktion von Kakao und Palmöl – und hat selber zweieinhalb Millionen Migranten im Land. Aus Côte d’Ivoire und Guinea kommen so viele Migranten, weil die beiden Länder (in einigen Regionen) über eine lange Migrationstradition und logistische Netzwerke (Schlepper, Transportmethoden) verfügen, die Migranten die Reise ermöglichen. Die Westafrikaner, die sich Richtung Mittelmeer aufmachen, sind dabei häufig besser ausgebildet und wohlhabender als die Nichtmigranten. Sie reisen, weil sie dafür die Mittel haben.
Was ist das grössere Bild der Migration in Westafrika?
Die meisten Westafrikaner, die auswandern, bleiben in der Region – rund drei Viertel. Es gibt eine Vielzahl von Routen. In Niger zum Beispiel, einem wichtigen Durchgangsland für die Reise zum Mittelmeer, gibt es eine stärkere Tradition, Richtung Süden in die wohlhabenderen Küstenländer zu migrieren als Richtung Norden. Ähnlich in Burkina Faso: Der Migrationskorridor mit Côte d’Ivoire ist der wichtigste in Westafrika – viele Burkinaber arbeiten auf den Plantagen im Nachbarland.
In den vergangenen Jahren hat auch die Abwanderung von Fachkräften zugenommen – befördert durch die Bemühung europäischer Länder, zum Beispiel Pfleger und Ärztinnen in Afrika zu rekrutieren. Die Zahl der Westafrikaner, die auf legale Weise mit einem Arbeits- oder Studienvisum nach Europa gelangen, ist denn auch viel höher als jene der irregulär übers Meer Eingereisten. Grossbritannien vergab allein 2022 50 000 Arbeitsvisa an Nigerianer.