Beitrag vom 27.04.2023
NZZ
Kenia
Sektenmitglieder hungern sich zu Tode
Ein grausamer Leichenfund in Kenya führt in Afrika zu Diskussionen über unregulierte Kirchen
Christian Putsch, Kapstadt
Nach der Bergung von 90 Leichen mussten die Behörden die Ausgrabungen im Shakahola-Wald unterbrechen. Nicht etwa, weil alle verhungerten Mitglieder des sogenannten Malindi-Kults gefunden wurden. Sondern schlicht, weil die Leichenhäuser an Kenyas Ostküste nördlich von Mombasa hoffnungslos überfüllt waren. In dem ostafrikanischen Land spricht man von einem Massaker. Präsident William Ruto nennt das Ganze Terrorismus. Kenyanische Medien zeigen Bilder von abgemagerten Überlebenden. Diese berichten, dass der Sektenführer Paul Mackenzie Nthenge sie angewiesen habe, sich zu Tode zu hungern. Wofür? «Um Jesus zu begegnen.»
Das Ausmass des Leids, das der im Hungerstreik befindliche Mackenzie offenbar über Hunderte von Menschen brachte, ist nahezu beispiellos. In Afrika gab es einen ähnlich erschreckenden Fall vor 23 Jahren, als in Uganda 778 Mitglieder der Endzeit-Sekte «Bewegung zur Wiederherstellung der zehn Gebote» starben – teilweise durch Suizid, teilweise weil sie in einer Kirche eingesperrt waren, die dann angezündet wurde.
Der grausame Leichenfund von dieser Woche hat in Afrika zu neuen Diskussionen über unregulierte Kirchen geführt. Sie gibt es in vielen afrikanischen Ländern zuhauf, allein in Kenya sind 4000 Religionsgemeinschaften registriert. Viele Freikirchen sind politisch einflussreich, nur selten traut sich eine Regierung, sich gegen sie zu stellen.
Warnhinweise ignoriert
So war es auch bei Mackenzie und seinem Malindi-Kult. Die Behörden haben während Jahren die Warnhinweise, wonach Menschen sich zu Tode hungerten, ignoriert. Erst vor zwei Wochen wurde Mackenzie verhaftet. Mackenzie und andere Sektenführer predigen ihre eigene Interpretation des «Wohlstandsevangeliums». Sie verlangen von ihren Anhängern hohe Abgaben, und so mancher richtet enormen Schaden an, etwa mit Versprechungen auf Wunderheilungen – zum Beispiel von HIV-Infektionen. Bereits im Jahr 2017 wurde klar, dass von Mackenzies Freikirche eine Gefahr ausging. Damals wurde er wegen Radikalisierung angeklagt. Er hatte seine Anhänger aufgefordert, ihre Kinder nicht mehr zur Schule zu schicken. Mackenzie kam weitgehend ungeschoren davon, wie auch Anfang dieses Jahres, als er wegen zwei verhungerter Kinder seiner Anhänger angeklagt war.
Die kenyanische Bevölkerung kann es vor diesem Hintergrund nur schwer fassen, dass die Menschen offenbar unbemerkt verhungerten. Formell hat Mackenzie seine Kirche im Jahr 2019 aufgelöst. Aber viele Anhänger blieben der Sekte treu. Der Kirchenführer sitzt nun wieder in Haft, wo er in den Hungerstreik getreten ist – was eine geplante gerichtliche Anhörung am 2. Mai aus medizinischen Gründen unmöglich machen könnte.
Präsident Ruto hat angekündigt, die Reglementierung von Kirchen, Moscheen, Tempeln und Synagogen künftig strenger zu handhaben. Das erscheint angesichts des gegenwärtigen Falls selbstverständlich, ist aber bemerkenswert. Denn so mancher Politiker auf dem afrikanischen Kontinent traut sich aus Angst vor Stimmverlusten bei Wahlen nicht, gegen gesellschaftlich einflussreiche Kirchen vorzugehen.
Ermittlungen versickern
In Südafrika liessen die Behörden vor drei Jahren Malawis populärsten Prediger Shepherd Bushiri entwischen, der wegen Vergewaltigung in zahlreichen Fällen angeklagt war. Und als in Nigeria 2014 ein Gasthaus des «Propheten» T. B. Joshua einstürzte und über 100 Personen starben, versickerten Ermittlungen zu dem Baupfusch der Mega-Kirche schnell. Eine Ausnahme beim Umgang mit mächtigen Religionsführern ist Rwanda. Vor einigen Jahren wurden dort 700 Kirchen geschlossen. Es ging um Lärmbelästigung und ähnliche Verstösse gegen gesetzliche Vorgaben.