Beitrag vom 25.04.2021
SZ
Somaliland
Auf eigene Faust
VON BERND DÖRRIES
Somaliland kennt kaum jemand. Dabei könnte die Welt viel von dem jungen Land in Ostafrika lernen. In nur drei Jahrzehnten ist es zu einem der sichersten und friedlichsten Staaten auf dem Kontinent geworden – und zwar ohne Entwicklungshilfe. Wie haben sie das nur geschafft?
Während der Nachbarstaat trotz internationaler Milliardenhilfen in Terror versinkt und Menschen entführt werden, können Frauen in der Teilrepublik Somaliland studieren, Sport treiben, Auto fahren, sich frei bewegen.
Irgendwann war Edna Adan die Sache leid. Sie wollte nicht mehr ständig erzählen müssen, wo sie herkommt, wo dieses Land liegt, von dem viele noch nie gehört haben. Also hat sie auf der Rückseite ihrer Visitenkarten eine Landkarte drucken lassen mit einem kleinen Schriftzug: „Wo in der Welt liegt Somaliland?“ Man sieht Afrika als Ganzes, daneben einen kleinen Ausschnitt im Nordosten, der die Grenzen Somalilands zeigt, die mehr als 800 Kilometer langeKüste am Golf von Aden, die grünen Ebenen der Hafenstadt von Berbera und auch die karge Grenzregion zum Nachbarn Somalia. Mit Somalia wird Edna Adans Land andauernd verwechselt. Obwohl es doch in vielem das komplette Gegenteil ist.
„Allein der Fakt, dass Sie hier sitzen, zeigt, wie weit wir es geschafft haben“, sagt Adan in ihrem kleinen Universitätsbüro zu ihrem Gast. Drüben, in Somalia, kann sich kein europäischer Besucher ohne einen Konvoi bewegen. Weil dort die Terroristen von al-Shabaab Schrecken verbreiten, es kommt fast täglich zu Anschlägen und Entführungen.
Adan ist 83 Jahre alt und erstaunlich fit. Sie leitet nicht nur die Edna-Adan-Universität, sondern auch eine Klinik in der Hauptstadt Hargeisa. Hier gibt es keine Slums und keine Bettler, dafür schöne Häuser mit weißen Mauern und rot blühenden Bougainvilleen, und im Stadtzentrum moderne Bürogebäude und eine sehr hohe Dichte an Eisdielen. Auf dem Markt verkaufen Frauen Goldschmuck, ohne dass es besonderer Sicherheitsvorkehrungen bedarf. Junge Frauen gehen in eigene Fitnessstudios, spielen Basketball und joggen. Es gibt ein Kulturzentrum, das mittlerweile eines der größten Literaturfestivals Afrikas ausrichtet, mit Zehntausenden Besuchern. Anderswo in Afrika wird man gefragt, wie es einem geht. In Somaliland wollen die Leute wissen, wie man ihr Land findet. Nicht nur auf der Karte.
Die Menschen hier sind vor allem: unerschrocken und experimentierfreudig
Bittet man die Menschen in Somaliland per E-Mail oder Whatsapp, ob sie Zeit hätten, ein wenig von der Erfolgsgeschichte ihres Landes zu erzählen, kommt meist innerhalb weniger Minuten eine freundliche Antwort, ja, sicher, kommen Sie vorbei.
An der Wand des kleinen Büros von Edna Adan hängen Dutzende Fotos, die sie mit Staatschefs und Berühmtheiten aus aller Welt zeigen, mit Bill Clinton, Kofi Annan und Kurt Georg Kiesinger. Sie war eine der ersten ausgebildeten Hebammen am Horn von Afrika, die dann später selbst Hebammen ausbildete, sie war auch Regionalchefin der Weltgesundheitsorganisation WHO. Ihr Mann war Präsident von Somaliland, sie selbst wurde später Außenministerin. In einem kleinen Land ist vieles möglich, wenn man will.
In einer Ecke ihres Büros stehen Blumentöpfe, Keimlinge liegen in deren Erde. Edna Adan möchte prüfen, was denn alles so wächst in der Erde Somalilands, was sich hier künftig anbauen ließe. Die Menschen hier in Somaliland sind vor allem eines: unerschrocken und experimentierfreudig.
Die meisten Berühmtheiten auf den Fotos in Edna Adans Büro haben nie Somaliland besucht. Edna Adan sagt: „Die Welt hat sich entschieden, uns zu ignorieren.“ Die meisten Menschen auf der Welt haben wohl überhaupt noch nie von Somaliland gehört. Oder denken, vom zweieinhalb Mal so großen Somalia sei die Rede. Ist das vielleicht sogar ein Grund für Somalilands Erfolg? Der wirkt umso größer, wenn man den politischen Alltag der beiden Länder miteinander vergleicht.
Terrormilizen und korrupte Politiker? Gibt es bei den verhassten Nachbarn
In Somaliland wird im Mai gewählt, die Vorbereitungen laufen planmäßig und ruhig. In Somalia hat der Präsident seine Amtszeit gerade eigenmächtig um zwei Jahre verlängert. Somalilands Hauptstadt Hargeisa mit etwa einer Million Einwohnern ist eine der sichersten Städte des Kontinents überhaupt, mit Pizzerien, Bürogebäuden, Stadtrandvillen, nicht zu vergessen den Eisdielen. Drüben, in Mogadischu, terrorisieren die Islamisten die Bevölkerung. In Somaliland ist der Islam relativ tolerant.
Somaliland hat etwa fünf Millionen Einwohner, es ist in etwa zweimal so groß wie Irland. „Wir haben mit denen nichts mehr zu tun“, sagen sie über das Nachbarland und dessen 15 Millionen Bewohner.
Dreißig Jahre Unabhängigkeit von Somalia feiert Somaliland am 18. Mai. Ein guter Anlass, der Welt zur Abwechslung mal eine schöne Erfolgsgeschichte aus Afrika zu erzählen, an denen ja kein Überfluss besteht. Eine Geschichte von einem Land, das zwar immer noch zu den ärmsten in Afrika gehört, das es aber, vor dreißig Jahren aus Schutt und Asche auferstanden, zu einem der sichersten und friedlichsten in Afrika geschafft hat. Einem Land, das nicht im Würgegriff von Milizen und korrupten Politikern steckt, sondern in dem Frauen studieren, Shoppingmalls, Hotels und Straßen gebaut werden – und gerade jetzt ein gigantischer topmoderner Hafen. Ein Nomadenvolk, das in die globalisierte Welt katapultiert wurde und dort um einen Platz wirbt.
Somaliland aber ist nicht einfach nur ein junges Land, es ist auch ein einzigartiges gesellschaftliches Experiment. Denn der Staat wurde im Gegensatz zu vielen anderen in Afrika übersehen und gemieden. Nicht nur von den Staatsoberhäuptern und Berühmtheiten, deren Fotos heute bei Edna Adan im Büro hängen, sondern auch von Entwicklungshelfern. Somaliland bekam über die Jahrzehnte kaum finanzielle Unterstützung von außen, war von Anfang an auf sich allein gestellt. Die Frage ist: Geht es dem Land trotz der fehlenden Hilfe so gut? Oder genau deswegen? Und überhaupt: Ist dieser Staat ein Staat?
Für die Welt existiert die Republik nämlich gar nicht, obwohl sie über eigene Grenzen und eine eigene Währung verfügt, den Somaliland-Schilling. Nur Taiwan und Coca- Cola machen eine Ausnahme. Taiwan hat eine Vertretung in der Hauptstadt Hargeisa eröffnet und Coca-Cola eine Abfüllanlage. Einführen darf Somaliland eigentlich alle Produkte, solange die Bezahlung stimmt. Der Export dagegen gestaltet sich schwieriger, weil er nach den Regeln ablaufen muss, die im internationalen Rahmen für Somalia ausgehandelt wurden. Fisch etwa darf nicht als „Made in Somaliland“ exportiert werden, sondern nur unter der Herkunftsbezeichnung des ungeliebten Nachbarn.
Im Jahr 2005 hatte Somaliland einen Antrag auf Aufnahme in die Afrikanische Union gestellt, der abgelehnt wurde. Das Argument war letztlich, da könne ja jeder kommen. Viele der abblockenden Staaten sind im eigenen Land mit Regionen beschäftigt, die in die Unabhängigkeit wollen. Aber wohl in keiner ist die Trennung faktisch so real wie in Somaliland.
Ein halbes Dutzend dieser Nicht-Staaten gibt es in der Welt, die sich selbst als unabhängiges Land sehen, aber vom Rest der Welt als Teil eines anderen Staates gesehen werden. Sie können keine gültigen Pässe ausstellen und keine Handelsverträge abschließen. Sie können nicht Teil der Vereinten Nationen (UN) werden und nicht mit einer eigenen Mannschaft an den Olympischen Spielen teilnehmen. Somaliland hat schöne Strände und alte Höhlenzeichnungen, Touristen kommen aber keine, weil die Regierungen in Großbritannien, Deutschland und den USA das Land als Somalia behandeln und mit den höchsten Reisewarnungen versehen. Somalilands Schicksal ist, dass es immer auf sich allein gestellt ist, aber nie eigenständig.
„Ich kann mich als Frau hier frei und sicher bewegen, Auto fahren, bei offener Tür schlafen, Reden halten und Konferenzen besuchen. Ich habe eine Uni mit 1500 Studenten, 70 Prozent sind Frauen.“ Was Edna Adan damit sagen möchte: Somaliland zeigt doch alles, was EU und UN von so vielen afrikanischen Ländern immer einfordern. Dennoch ist es für die Internationale Gemeinschaft ein Flecken Land, der letztlich nur ein bisschen Staat spielt, sich aber mit dem Nachbarland Somalia eine Vorwahl teilen muss.
Für die internationale Gemeinschaft ist Somaliland ein Flecken Land, der Staat spielt
Wenn die Welt nicht nach Somaliland kommt, dann muss Somaliland eben raus in die Welt. Adan reist seit vielen Jahrzehnten um den Globus und wirbt um Anerkennung. Doch sie wird verlässlich abgewiesen, von jenen internationalen Organisationen wie den UN, für die sie lange selbst gearbeitet hat. Zum einen schildert Adan ihre Verbitterung über die Zurückweisung, zum anderen sagt sie: Das sei eigentlich ein großes Glück gewesen. „Wir konnten uns entwickeln, wie wir wollten, ohne Einmischung von außen“, sagt sie.
Seit Jahrzehnten wird darüber debattiert und geforscht, was Staaten erfolgreich und stabil macht. Konsens war im globalen Norden bisher, dass fragilen Nationen geholfen werden muss, mit Militärinterventionen, Milliardenkrediten und Entwicklungshilfe. Demokratische Wahlen mussten stattfinden und Handelsverträge abgeschlossen werden. Nichts davon ist in Somaliland passiert.
Fliegt man nach Hargeisa, sieht man, wie schon Kilometer vor der Landebahn Grundstücke abgesteckt sind, die sich Investoren gesichert haben, ein Zeichen, dass man in die Zukunft vertraut. In der Stadt dann fällt auf, was fehlt: internationale Konzerne. Somaliländer mussten ihre eigenen Tankstellen gründen, Banken und Eisdielen. Sie haben aus Ziegen- und Schafsherden ein Produkt für den Massenexport gemacht, fast fünf Millionen Tiere werden jedes Jahr in die arabischen Staaten exportiert. Das Mobilfunknetz ist oft sogar schneller und günstiger als in Europa.
Die Diskussion über Sinn und Unsinn von Entwicklungshilfe ist fast so alt wie die Idee selbst
Das Entwicklungsland ohne Entwicklungshilfe ist für Wissenschaftler und Beobachter ein begehrtes Studienobjekt geworden. Denn die Diskussion über Sinn und Unsinn der Unterstützung aus dem Norden ist fast so alt wie die Idee selbst. Die US-Sambierin Dambisa Moyo schrieb in ihrem Bestseller „Dead Aid“ 2009: „Entwicklungshilfe war und ist immer noch, ein ungemindertes politisches, ökonomisches und humanitäres Desaster für den größten Teil der Entwicklungsländer (...) Sie führt zu Korruption und Konflikten und verhindert freies Unternehmertum.“ Ihr Argument: Entwicklungshilfe mache träge, führe nicht zu Eigeninitiative.
Mit vielen Studien und Theorien hat man herauszufinden versucht, wie Länder aussehen könnten, die sich nur aus sich selbst heraus entwickelten. Aber noch nie gab es wirklich so etwas wie Somaliland: eine friedliche Insel am Rande des Kontinents. Zwischen 1991 und 1997 habe das Land lediglich 100 000 US-Dollar an internationaler Hilfe bekommen, schrieb die USamerikanische Wissenschaftlerin Sarah G. Phillips vergangenes Jahr in ihrem Buch „When there was no aid“. Gleichzeitig sei der Nachbar Somalia mit mehreren Milliarden US-Dollar unterstützt worden, dazu kamen Militärinterventionen, Friedenstruppen, Entwicklungspläne und organisierte Wahlen. Das alles hat dazu geführt (oder zumindest nicht verhindert), dass in Somalia zwischen 1997 und 2018 mehr als 25000 Menschen durch islamistischen Terror und Clan-Streitigkeiten ums Leben kamen. In Somaliland waren es 300.
Man kann wohl von Somaliland lernen. Aber dazu müsste man es bekannter machen in der Welt. Bei den UN in New York zum Beispiel. Washington würde auch nicht schaden. Oder aber, man fängt in Niedersachsen an.
„Wir sind das Was?-Land, von dem kaum einer je gehört hat“, sagt Mustafa Ismail. Der heute 65-Jährige wurde im Jahr 1999 Botschafter Somalilands in Deutschland. Gerade ist er auf Besuch in Hargeisa. In anderen afrikanischen Ländern sitzen Diplomaten und Entwicklungshelfer in Luxushotels am Pool und überlegen bei Gin Tonic und Garnelen, warum Afrika sich nicht helfen lässt.
Das Maansoor hat weder Swimmingpool noch Gin Tonic zu bieten. Es stammt aus einer Zeit, in der noch viel mit goldgefärbten Stahlträgern und Glasfassaden gearbeitet wurde. Vor dem Gebäude wurde die einbetonierte Fläche durch ein paar Blumengitter aufgelockert, in Plastikstühlen sitzen jeden Tag die gleichen, ausschließlich männlichen Gäste. Mustafa Ismail sitzt meist im Schatten.
Als junger Mann ist er nach Göttingen gegangen zum Studieren, im sehr reinen Deutsch der Niedersachsen tadelt er nun seinen Gesprächspartner. Weil der kein gebügeltes Hemd trägt. Er bringt dem Reporter ein Hemd aus seinem Hotelzimmer. In Hargeisa hat jeder Mann ein gebügeltes Hemd zu tragen. Es gibt hier fast so viele chemische Reinigungen wie Eisdielen.
Was also macht Somalilands Erfolg aus? Dass man uns damals in Ruhe gelassen hat, sagt Ismail. Man muss zurückgehen in die Kolonialgeschichte, um zu verstehen, was er mit „damals“ meint.
Als er 1956 geboren wurde, lagen die Kolonialreiche in Afrika gerade in den letzten Zügen. Die Siedlungsgebiete des Somali- Volks erstreckten sich über Äthiopien, wo Ismail geboren wurde, die damalige französische Kolonie Dschibuti, das englische Somaliland und das italienische Somalia. Nach der Unabhängigkeit verbanden sich Somalia und Somaliland und träumten den pansomalischen Traum – der bald zum Alptraum wurde. Der in Mogadischu herrschende Diktator Siad Barre ließ die aufkommende Unabhängigkeitsbewegung in Somaliland grausam niederbomben. Zehntausende starben, Hunderttausende flohen ins Ausland. Die Rebellen kämpften weiter, 1991 war ihr Kampf gewonnen. Somaliland erklärte sich sofort unabhängig, wollte mit Somalia nichts mehr zu tun haben.
Die Befreiungskämpfer hatten gesiegt, ein Moment, den es Dutzende Male gab in der an Befreiungen reichen afrikanischen Historie. Und der dann meist zu neuer Unterdrückung führte, weil die Befreiungskämpfer selbst zu korrupten Langzeitherrschern wurden. In Ländern wie Simbabwe, Uganda und Angola haben die Menschen bis heute nicht die Freiheit, die ihnen ihre einstigen Befreier versprochen hatten. Und in Somaliland? „Haben sich die Freiheitskämpfer einfach aufgelöst“, sagt Ismail. Ein historischer Glücksfall in Afrika.
Der Botschafter macht ein zufriedenes Gesicht. „Alle Entwicklungshilfe war damals auf Somalia konzentriert, auf die Wiederbelebung des Staates. Was für den Wiederaufbau gedacht war, ging aber an die Kriegsherren. Dort ist eine neue Klasse entstanden, die gibt es hier nicht“, sagt er. Im übersehenen Somaliland gab es damals nichts zu verteilen.
Isoliert vom Bankensystem? Dann wird eben ein eigener Transferdienst erfunden
Während die Vereinten Nationen mit ihren Demokratisierungsplänen nach Mogadischu kamen, suchte man in Somaliland erst mal in der Tradition nach Wegen in die Zukunft. Der Botschafter erzählt, wie man eine klassische Friedenskonferenz organisierte, wie man die Clanältesten zusammenrief und wie diese sich 1991 in einer kleinen Stadt nahe Hargeisa trafen, ohne Zeitrahmen, um alle Konflikte zu lösen. Es gab keine Geber oder internationale Organisationen, die den Rahmen einer Verfassung oder demokratische Wahlen vorgaben. Es gab nicht einmal Tische und Stühle. Sie saßen auf dem Boden und debattierten so lange, bis eine Lösung gefunden wurde.
Eine reine Demokratie ist Somaliland bis heute nicht, die mächtige zweite Kammer des Parlaments wird nicht gewählt, sondern ist eine Vertretung der Clanältesten. Doch hat das Land anders als das chaotische Somalia ein funktionierendes System des Interessenausgleichs. Die Wähler können den Präsidenten und die Abgeordneten der ersten Kammer direkt wählen.
Auch die deutsche Politik sollte von Somaliland erfahren. Ismail wurde als Botschafter geschickt, er sollte die Abgeordneten im Auswärtigen Ausschuss treffen und um Anerkennung werben. Er sollte aber vor allem auch die, wie er sagt, etwa 20 000 Somaliländer in Deutschland ansprechen, die Diaspora. Viele Hunderttausende leben in England und den USA, sagt Ismail. Sie denken nicht nur an ihre Heimat, sie kümmern sich auch um sie.
Was Somaliland an Hilfsgeldern fehlte, bekam es von den Hunderttausenden vor dem Krieg ins Ausland Geflüchteten zugeschickt. Eine Art Entwicklungshilfe von Somaliländern nach Somaliland. Da das Land vom internationalen Bankensystem abgeschnitten ist, erfand ein Somaliländer gleich auch noch den elektronischen Transferdienst Worldremit, der heute mit mehr als 1000 Mitarbeitern zu den größten Diensten seiner Art gehört. Sie wissen, dass sie sich selbst zu helfen wissen müssen.
„Ein Geschäftsmann ist hier ein echter Geschäftsmann, dessen Investitionen sich rechnen, und nicht nur einer, der besonders gut an Hilfsgelder aus dem Ausland kommt wie im Nachbarland Somalia“, sagt Mustafa Ismail im Garten des Hotels Maansoor. „Das Geld für den Bau dieses Hotels kam auch von der Diaspora, nicht von den Vereinten Nationen. Das schafft eine ganz andere Beziehung zu den Projekten“, sagt Ismail. Dieses „Ownership“, im Deutschen nur etwas holprig mit Inhaberschaft zu übersetzen, ist, wenn es fehlt, eines der zentralen Probleme der Entwicklungshilfe.
Das klassische Symbol schlechthin hierfür, das man immer wieder sieht in Afrika: ein verrosteter Traktor, der im Graben liegt. Oft wurde er mit Geld aus Europa gekauft, dann aber nie gewartet und von der Dorfgemeinschaft zu Schrott gefahren. Weil er ja niemandem wirklich gehört. In Somaliland mietet man sich einen Traktor für zehn US-Dollar am Tag, von Geschäftsleuten, die selbst in das Geschäft investiert haben.
„Wir brauchen Jobs“, sagen die Jungen, die man überall in Hargeisa in den Eisdielen trifft
Die vergangenen dreißig Jahre seien eine Erfolgsstory, sagt Ismail. Das Land hat funktionierende Institutionen, ein Steuersystem etwa, durch das sogar im verdammten Corona-Jahr 2020 die Einnahmen gesteigert werden konnten, weil mehr Geld im Zoll und der Mehrwertsteuer eingenommen wurde.
Aber Ismail sieht auch, wie die Diaspora etwa in Berlin, wo seine zehn Kinder wohnen, sich immer weiter entfernt von Somaliland. Sie überweisen immer weniger Geld, weil sich die Jüngeren, die schon im Ausland geboren wurden, nicht mehr so sehr mit der Heimat der Vorfahren identifizieren und mit der Rückständigkeit mancher Somaliländer, die etwa immer noch ihre Töchter beschneiden lassen. Dem Land fehlt jetzt das Geld, das all die Jahre so wichtig war für Investitionen. Bisher stammt ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes aus Überweisungen aus dem Ausland, 800 Millionen Dollar sollen es 2020 gewesen sein. Wer springt dafür ein, wenn diese Geldquelle mal versiegt? Wie geht dieses Experiment, das lange so beeindruckend funktioniert hat, am Ende aus?
Man darf sich keine Illusionen machen: In Somaliland sind viele Probleme kleiner als bei den Nachbarn, aber sie sind nicht gelöst. „Der Staat ist so schwach, er kann kaum Entwicklungsprogramme machen“, sagt Ismail. Zwar stieg das Bruttoinlandsprodukt von 2012 bis 2018 von 1,8 auf 2,2 Milliarden Dollar, es gehört aber weiter zu den kleinsten der Welt. Somaliland bleibt ein bitterarmes Land, eines, das immer wieder von zerstörerischen Dürren heimgesucht wird. Gerade mal 566 Dollar betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2018, der Staat hat 2021 ein Budget von nur 332 Millionen US-Dollar, weniger als die Stadt Ulm mit ihren 125 000 Einwohnern.
Nur ein Beispiel für die Misswirtschaft: In der Hauptstadt Hargeisa gibt es ein Dutzend Stromanbieter, die keine gemeinsame Infrastruktur haben, jeder hängt seine Kabel auf die Strommasten, die unter der Last fast zusammenbrechen. Erst kürzlich hat man sich darauf geeinigt, mehr zusammenzuarbeiten und die Dieselgeneratoren, die überall in der Stadt brummen, durch Solarpaneele abzulösen. „Wir haben den teuersten Strom der Welt“, sagt Ismail. Im verarbeitenden Gewerbe seien viele Betriebe eingegangen, weil die Strompreise so hoch sind. Es fehlt an Arbeit.
„Wir brauchen Jobs“, sagen die Jungen, die man überall in den Eisdielen trifft und in den neuen Kaffeehäusern, wo sie die gleichen Eissorten essen und den gleichen Kaffee trinken wie junge Leute in Europa. Sie sind die Generation, die den Krieg nicht mehr erlebt hat oder sich nicht mehr daran erinnert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 70 Prozent – auch, weil die Jungen keine Felder mehr bestellen wollen. Ihre Maßstäbe sind nicht, wie es früher war oder wie es in Somalia ist, sondern was woanders auf der Welt möglich ist. Sie wollen studieren, bekommen im besten Fall Stipendien aus dem Ausland, sie können aber nicht so einfach reisen, weil sie keinen Pass haben.
Wollen sie nach Deutschland oder in die USA, müssen sie sich den Ausweis des verhassten Nachbarn Somalia besorgen. Sie wollen raus aus diesem Labor, weg von dieser Insel. Es muss, so sagen es alle, die man in Somaliland trifft, nun eine nächste Phase kommen, eine, die Somaliland stärker mit der Welt verbindet. Die mehr Wachstum ermöglicht. Die Frage ist nur: Wie?
Eine Antwortmöglichkeit gibt es, denn es kommt mittlerweile durchaus Geld an im Land: Entwicklungshilfe, nun also doch. Es klingt wie ein zweites Experiment: Was macht diese Hilfe mit den Somaliländern?
Im Jahr 2019 kamen 222 Millionen US- Dollar von Gebern wie Schweden, den USA und Deutschland (die aber nur etwa zehn Prozent der 1,9 Milliarden ausmachen, die an Ganz-Somalia gingen). Es soll mehr werden, Dänemark und Norwegen wollen Straßen bauen und Brücken.
Fährt man aus Hargeisa aufs Land, sieht man mittlerweile überall die Stahlschilder, die Organisationen wie die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hinterlassen oder das Norwegische Flüchtlingshilfswerk. Manchmal scheint es, als sei die Beschilderung die vorrangige Aufgabe dieser Organisationen. In einer kleinen Schule in dem Dorf Salahley haben vier Hilfsorganisationen ausweislich zwei Klassenzimmer gebaut. „Sie stellen ein Schild auf, sobald sie ein kleines Solarpaneel dagelassen haben“, sagt ein Bewohner.
Das Gewächshaus, das die GIZ gebaut hat, und die kleine Mauer vor dem Krankenhaus, die auch aus deutschen Mitteln kommt, sie sind schon wieder in sich zusammengefallen. Hinter der kleinen Schule haben sie aus all den vielen Stahlschildern eine Feuerstelle gebaut. Man hört aber auch von Entwicklungshelfern, die Brunnen bauen in Regionen Somalilands und neue Anbaumethoden verbreiten, in die es der Staat bisher noch nicht geschafft hat, und wohl auch so bald nicht schaffen wird. Man trifft dort auf Bewohner, die sich wünschen, dass es diese Hilfe weiter gibt.
Der Informationsminister sagt: „Wir sind strategisch wichtig, es gibt Länder, die uns brauchen.“
Womöglich ist die Frage nicht, ob Hilfe wirklich hilft, sondern welcher Art sie ist.
Jama Musse Jama, 53, Leiter des Literaturfestivals, erzählt, wie hier ein Container voller Sachspenden angekommen sei aus den USA. Darunter waren 52 Exemplare eines Ratgebers, in dem Tipps gegeben wurden, was man gegen Alkoholismus machen kann. Dabei gebe es das Problem im muslimisch-trockenen Somaliland so gut wie gar nicht. Die Episode zeige, dass immer noch im globalen Norden entschieden werde, was gut für Afrika ist. Wie damals, in kolonialen Zeiten. „Ihr bietet mir Dinge, die wir nicht brauchen. Wir wollen selber entscheiden, was wichtig für uns ist“, sagt der Festivalleiter Jama.
Selber entscheiden, das heißt groß gedacht: Man werde sich letztlich das bessere Angebot heraussuchen. So sagt es Saleebaan Yuusuf Cali Koore, der Informationsminister des Landes. In einem glänzenden roten Anzug sitzt er auf der Sofalandschaft seines Büros. Er trägt den Zusatztitel als Zuständiger für „nationale Führung“, und er macht nicht den Eindruck, zu viel Respekt zu haben vor so einer Aufgabe. „Wir sind in einer Position von strategischer Wichtigkeit, es gibt Länder, die uns brauchen.“ Ach ja? Viele Delegationen aus China und den arabischen Ländern schauten in Hargeisa vorbei. Letztlich, so lässt sich das Gespräch zusammenfassen, könne sein Land zwischen den Angeboten aus dem Westen und dem Osten entscheiden. „Wir wollen keine Almosen, sondern faire Bedingungen.“
Wäre Somaliland ein Staat wie jeder andere, könnten Handelsverträge geschlossen werden, internationale Banken ins Land kommen, der Staat könnte bei IWF und Weltbank Kredite aufnehmen. Bisher ist Somaliland schuldenfrei, weil es niemanden gab, bei dem es sich etwas hätte leihen können. Aber kaum ein Land der Welt konnte einen großen Sprung machen, ohne sich das Geld zu leihen für Großprojekte. So braucht es Investitionen von außen. Sie machen sich schon bemerkbar in der Landschaft Somalilands, vor allem: an dessen Küste.
Fast eine halbe Milliarde Dollar investieren die Arabischen Emirate in Berberas Hafen
Der Weg nach Berbera am Golf von Aden führt aus der Hauptstadt hinaus und hinein in das Land der Nomaden, die in einfachen Hütten aus geflochtenen Holzgerüsten leben, die ihre Herden von Schafen und Ziegen in der kargen Landschaft weiden lassen. Straße der Elefanten hieß der Pfad an die Küste des Meeres früher, weil es so viele von ihnen gab. Bis die englischen Kolonialisten kamen, die die Jagd intensivierten, die schließlich zur Ausrottung der Elefanten in diesem Teil Afrikas führte.
Das Sommerhaus des ehemaligen Gouverneurs in der Küstenstadt Berbera beherbergt heute eine Berufsschule für Bauund Elektrotechnik, die der Botschafter Ismail mit deutscher Hilfe eingerichtet hat. Der Hafen wurde einst im Kalten Krieg von den Sowjets als Basis ausgebaut, später kamen die USA. Heute wird mit Investitionen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten von fast einer halben Milliarde Dollar ein hochmodernes Terminal gebaut, gerade werden die neuesten Containerkräne aus China geliefert.
Gebaut wird hier für das Nachbarland Äthiopien. Das 100-Millionen-Einwohner- Land hat keinen eigenen Meerzugang und wird nun mit einer neuen Straße mit dem Hafen des Nachbarlandes verbunden.
Es ist eine Investition, wie sie sich viele Somaliländer wünschen. „Das ist ein fairer Deal, in dreißig Jahren wird Somaliland den Hafen übernehmen“, sagt Hafenmanager Said Hassan Abdillahi, 52, ein Mann, der nie seine Sonnenbrille abzunehmen scheint. Abdillahi zeigt bei einer Rundfahrt über das Gelände die neuen Tiefseehafenbecken und die neuen Riesenkräne, Mitte des Jahres soll alles fertig sein, dann könnten 1300 Lastwagen am Tag über die dann hoffentlich ebenfalls fertige neue Straße ins Nachbarland Äthiopien fahren. Der Hafen bringt bereits jetzt 60 Prozent des Haushaltes von Somaliland ein, künftig soll es noch mehr sein.
Und sowieso, sagt der Hafenmanager, sei das neue Terminal auch ein Symbol. Man zeige damit der Welt, dass Somaliland mit ihr in Verbindung stehe.
Ob die Welt das will oder nicht.