Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 17.01.2021

NZZ

Afrikanischer Märtyrer: Patrice Lumumba brachte 1960 die abtretenden Kolonialherren gegen sich auf. Er bezahlte mit dem Leben

Vor sechzig Jahren wurde der kongolesische Unabhängigkeitsheld Patrice Lumumba getötet – mit Unterstützung Belgiens und der CIA. In Kongo-Kinshasa wirkt die Ermordung bis heute nach.

Samuel Misteli, Fabian Urech

Die Videoaufnahmen sind schwarz-weiss und unscharf, sie fassen nicht das ganze Drama jenes Tages. Es ist der 30. Juni 1960 in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa. Im Palais de la Nation wird die Unabhängigkeit gefeiert, draussen auf den Strassen knallt Feuerwerk.

Patrice Lumumba sitzt auf seinem Stuhl, ein Stapel Papiere auf dem Schoss. Er macht wie rasend Notizen. Wenige Meter neben ihm spricht der junge belgische König Baudouin I. Dessen Vorgänger Léopold II., der auch als «Schlächter des Kongo» gilt, habe dem Land «die Zivilisation geschenkt». «Kongos Unabhängigkeit stellt die Krönung des Werkes dar, das Léopolds Genie ersann», sagt Baudouin

Belgien entlässt den Kongo an diesem letzten Junitag «in aller Freundschaft in die Unabhängigkeit», so formuliert es der König. Für Lumumba, den ersten Ministerpräsidenten des Kongo, klingt das wie Hohn. Lumumba tritt ans Mikrofon, die Rede ist nicht vorgesehen – doch sie hat Folgen, die in Kongo-Kinshasa bis heute spürbar sind.

«Man hat uns mit Ironie behandelt, Herablassung, Beleidigung, Schlägen», sagt der schmale, hochaufgeschossene 34-Jährige. «Wer wird die Erschiessungen vergessen, die Kerker, in denen jene schmachteten, die sich der Ausbeutung nicht unterwerfen wollten?»

Lumumbas Einspruch, der im Radio übertragen wird, ist eine der berühmtesten Reden des 20. Jahrhunderts. Aus belgischer Sicht ist sie eine Unerhörtheit. Sechs Monate später wird Lumumba ermordet.

Keine einheimischen Ärzte, keine Ingenieure und Juristen

In den 1950er Jahren wurde überall in Afrika der Ruf nach Unabhängigkeit laut, und in Kongo machte ein junger Mann mit Fliege und Intellektuellenbrille von sich reden. Patrice Lumumba war 1925 geboren, er hatte evangelische und katholische Missionsschulen besucht, er war Verkaufsleiter einer grossen Brauerei in der Hauptstadt. Und er hatte eine politische Vision: Ende 1958 gab er die Gründung einer neuen Partei bekannt, des Mouvement National Congolais (MNC). Das MNC war die erste einheimische Bewegung, die Kongo als Nation betrachtete, andere Parteien vertraten regionale oder ethnische Interessen. Lumumba wollte die Zersplitterung überwinden.

Nur eineinhalb Jahre später war Lumumba Ministerpräsident eines Landes, das denkbar schlecht auf die Unabhängigkeit vorbereitet war. Am Tag der Unabhängigkeit zählte die Republik Kongo 16 Universitätsabsolventen. Es gab keinen einheimischen Arzt, keinen Ingenieur, keine Juristen, Ökonomen oder Offiziere. Belgien hatte keine einheimische Elite aufgebaut – die Folgen zeigten sich rasch.

Das neugeborene Land versank sogleich im Chaos. Am 4. Juli 1960, vier Tage nach Lumumbas Rede im Parlament, meuterte die Arme gegen ihre noch immer belgischen Befehlshaber. Am 11. Juli spaltete sich die rohstoffreiche Provinz Katanga ab. Zehntausende Belgier verliessen das Land, Belgien schickte im Gegenzug Truppen, sie sollten die verbliebenen Landsleute beschützen. Für Lumumba war es eine Invasion.

Am 12. Juli, einen Tag nach der Sezession Katangas, verschickte der Ministerpräsident ein Telegramm, es war adressiert an die Uno:
«die regierung der republik kongo ersucht uno organisation dringend um entsendung militärischer unterstützung stop»

Die Uno schickte tatsächlich Soldaten, es wurde die bis dahin grösste Mission der Vereinten Nationen. Doch Lumumba war unzufrieden, Resolution 143 sah nicht vor, dass die Uno-Truppen die belgischen Soldaten vertreiben und das abtrünnige Katanga wieder eingliedern würden. Lumumba suchte neue Hilfe – bei dem Land, das im Sicherheitsrat das meiste Verständnis für die kongolesische Regierung gezeigt hatte.

Lumumba eröffnet eine neue Front im Kalten Krieg

«könnten dazu veranlasst werden intervention der sowjetunion zu erbitten falls westliches lager akt der aggression gegen souveränität republik kongo nicht beendet stop», schrieb Lumumba am 14. Juli an die Adresse Moskaus. Es ist unwahrscheinlich, dass sich der Ministerpräsident bewusst war, welche Tragweite sein Telegramm hatte: Er eröffnete mit ihm eine neue, afrikanische Front im Kalten Krieg. Schon zwei Wochen zuvor hatte sich Lumumba mit seiner Rede einflussreiche Feinde geschaffen. Nun hatte er nicht nur die Belgier gegen sich; in Washington fragte man sich, ob der junge Ministerpräsident Kongo ins kommunistische Lager führen würde.

Die Kongo-Krise wurde zum internationalen Konflikt. Und Lumumba, so lässt sich rückblickend sagen, hatte mit dem Telegramm auch sein eigenes Todesurteil verschickt.

In den folgenden Wochen und Monaten war Léopoldville eine Brutstätte politischer Intrigen, an denen sich kongolesische Politiker, belgische Einflüsterer und die CIA beteiligten. Der Leiter des örtlichen CIA-Aussenpostens, Lawrence Devlin, schrieb nach Washington, hier finde ein klassisches kommunistisches Übernahmemanöver statt; es bleibe wenig Zeit, um ein neues Kuba zu verhindern. Er schlug vor, die kongolesische Regierung durch eine prowestliche Regierung zu ersetzen.

Doch Devlins Einschätzung war falsch. Lumumba war Nationalist, nicht Kommunist. Wirtschaftspolitisch war er eher ein Liberaler als ein Verfechter der Planwirtschaft. Nikita Chruschtschow, der damalige Regierungschef der Sowjetunion, soll über Lumumba gesagt haben: «Ich könnte sagen, dass Herr Lumumba ebenso sehr ein Kommunist ist, wie ich ein Katholik bin.»

Und doch war es kurz nach der Unabhängigkeit einsam um Lumumba geworden, die USA und Belgien wollten den unbequemen Ministerpräsidenten loswerden. Und sie fanden kongolesische Günstlinge, die ihren Wunsch in die Tat umsetzten.

Mobutu nutzte den Freipass der USA

Am 14. September 1960, zweieinhalb Monate nach Amtsantritt, wurde Ministerpräsident Lumumba abgesetzt. Der Anführer des Staatsstreichs hiess Joseph-Désiré Mobutu, er wurde einige Jahre später Präsident. Mobutu agierte mit Unterstützung der USA. Er bot den Amerikanern im Gegensatz zu seinem einstigen Freund Lumumba die Gewissheit, dem Westen die Treue zu halten. Das tat er – und nutzte den Freipass aus Washington dazu aus, ein kleptokratisches System zu errichten, das in Afrika kaum Parallelen hat.

Nach Mobutus Verrat stand Lumumba unter Hausarrest. Ein Kontingent von Uno-Soldaten, die sein Haus umstellten, verhinderten seine Verhaftung. Derweil planten Belgien und die USA die Liquidierung des Mannes, der noch immer Tausende von Anhängern im Land hatte. Wie der CIA-Leiter Devlin Jahrzehnte später in einem Buch schrieb, soll der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower höchstpersönlich angeordnet haben, Lumumba zu ermorden. Der nie ausgeführte Plan der CIA: Lumumba sollte mittels einer Tube vergifteter Zahnpasta getötet werden.

Am 1. Dezember wurde Lumumba schliesslich verhaftet. Zuvor hatte er versucht, in einem Auto versteckt zu fliehen. Mobutus Soldaten stellten Lumumbas Konvoi nach vier Tagen Flucht. Der einstige Unabhängigkeitsheld wurde in einer Kaserne interniert. Bei seiner Ankunft soll ihm jemand ein zusammengeknülltes Papier in den Mund gestopft haben – den Text seiner Rede am Unabhängigkeitstag.

Das Ende kam am 17. Januar 1961. Um 16 Uhr 50 landete ein Flugzeug in Elisabethville, im äussersten Südosten Kongos. Elisabethville, das heutige Lubumbashi, war die Hauptstadt der abtrünnigen Provinz Katanga. An Bord des Flugzeugs waren Lumumba und zwei Getreue, am Flughafen warteten rund 100 bewaffnete Soldaten, sie standen unter dem Kommando eines belgischen Hauptmanns. Belgien hatte den Plan gebilligt, Lumumba nach Katanga zu schaffen. So sollte er aus dem Einflussbereich seiner Anhänger entfernt werden. Stattdessen wurde er nur Stunden nach der Ankunft ermordet.

Kurz vor 22 Uhr hielt der Konvoi, der die Gefangenen transportierte, an einer abgelegenen Stelle in der Savanne ausserhalb von Elisabethville. Am Strassenrand war eine flache Grube ausgehoben. Daneben standen mehrere katangische Politiker, auch vier belgische Polizeivertreter waren anwesend. Die drei Gefangenen wurden nacheinander zum Rand der Grube geführt. Das Exekutionskommando stand wenige Meter entfernt. Als Letzter war Patrice Lumumba an der Reihe.
Lumumbas Ende war der Beginn seines Mythos. Er wurde zum Märtyrer der Dekolonisation verklärt, zu einem panafrikanischen Heiligen. Das hatte weniger mit seinem politischen Leistungsausweis zu tun als mit seinem Tod. Jean-Paul Sartre schrieb über ihn: «Seit Lumumba tot ist, hört er auf, eine Person zu sein. Er wird zu ganz Afrika.»

Lumumbas Legende war umso wirkmächtiger, als die Umstände seiner Tötung auch Jahrzehnte später nicht vollständig geklärt waren. Gerard Soete, ein belgischer Vize-Generalinspekteur der Polizei Katangas, erzählte Jahrzehnte später, er habe Lumumbas Leiche kurz nach der Ermordung wieder ausgegraben, mit einer Säge zerstückelt und in einem Fass mit Schwefelsäure aufgelöst. Als Souvenir habe er zwei Zähne und drei Finger des ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten des Kongo behalten.

2001 setzte das belgische Parlament eine Untersuchungskommission ein. Sie kam zum Schluss, dass selbst König Baudouin, der Mann, den Lumumba mit seiner Rede wütend gemacht hatte, von der Ermordung gewusst und sie gebilligt hatte. 2012 taxierte ein Gericht in Brüssel die Ermordung Lumumbas als Kriegsverbrechen.

Die Folgen für die Entwicklung Kongos

Der Mann, der einst Lumumbas Freund und Sekretär gewesen war, ihn verraten hatte und auf ihn folgte, tat, was Washington und Brüssel von ihm erwarteten: Er hielt dem Westen die Treue. Für sein Land, das er 1971 in Zaire umbenannte, war Mobutu hingegen eine Katastrophe. Der selbstverliebte Präsident schuf während seiner rund dreissigjährigen Herrschaft ein politisches System, das zwei Zwecke erfüllte: seine eigene Macht zu erhalten und sich schamlos zu bereichern.

Erst 1997 wurde Mobutu gestürzt. Auch unter seinen Nachfolgern – auf Laurent-Désiré Kabila folgte dessen Sohn Joseph und schliesslich der jetzige Präsident Félix Tshisekedi – verbesserte sich die Lage in Kongo-Kinshasa kaum. Das Land gehört weiterhin zu den ärmsten der Welt, die Sicherheitslage ist vielerorts katastrophal, das politische System von Nepotismus zerfressen.

Patrice Lumumba bleibt deshalb bis heute für viele Kongolesinnen und Kongolesen ein Symbol für einen besseren Kongo. «Er ist noch immer der beliebteste Politiker im Land», sagt Georges Nzongola-Ntalaja, Professor für Afrikanistik an der University of North Carolina. Gleichzeitig beeinflusse Lumumbas Tod die Entwicklungen vor Ort, sagt der Kongolese, der bei der Ermordung Lumumbas ein Teenager war. Zwar sei unklar, ob das Land nun an einem anderen Ort stünde, wenn Lumumba an der Macht geblieben wäre. Klar aber ist für Nzongola-Ntalaja, dass der Mord die Sicht der Menschen auf die Politik bis heute beeinflusse. «Viele Kongolesen glauben noch immer, ihr Schicksal werde in Washington, Paris oder Brüssel bestimmt. In diesem Glauben wirkt Lumumbas Ermordung direkt nach.»

Zugleich bleibe Lumumba für viele Kongolesen eine Inspirationsquelle. Gerade seine Vision eines einigen Kongo sei wohl mitentscheidend gewesen dafür, dass der riesige Vielvölkerstaat bis heute überhaupt in dieser Form existiere.

Von der fast mythischen Überhöhung, die Lumumba nach seiner Ermordung zuteil wurde, hält Nzongola-Ntalaja wenig; die Figur Lumumbas wird in der kongolesischen Politik oft instrumentalisiert. Trotzdem hält auch der Afrikanist Lumumba für einen Visionär. «Wir alle bereuen, dass er nie Gelegenheit hatte zu zeigen, was aus seinen Visionen in der Realität geworden wäre.»

Dass es nicht dazu gekommen ist, hat auch mit der unversöhnlichen Rede zu tun, die Patrice Lumumba am Unabhängigkeitstag von Kongo hielt. Auch diese jährt sich Ende Juni zum 60. Mal. Belgien wird an diesem Tag in einem symbolischen – und reichlich morbiden – Akt zurückgeben, was von Lumumba übrig ist: einer der Zähne, die Lumumba nach der Ermordung gezogen wurden.