Beitrag vom 01.08.2020
Publik Forum
„Wir erreichen mehr, wenn wir nicht laut werden“
Wer führt eigentlich noch eine kritische Auseinandersetzung zum Thema Entwicklungszu-sammenarbeit? Die Erfolge von BMZ-Minister Gerd Müller, CSU, sind überschaubar - aber die deutschen Hilfsorganisationen hat er nicht zu fürchten
Von Horand Knaup
Neulich, im Bundestag, war es wieder so weit. In der Fragestunde wurde Gerd Müller, CSU-Entwicklungsminister, von den Abgeordneten aller Fraktionen einvernommen. Und Müller holte weit aus. Korruptionsfragen und Menschenrechte müssten wieder einen höheren Stellenwert haben. Mal sprach er grundsätzlich: „Man muss die Entwicklungszusammenarbeit neu denken.“ Mal menschlich - die Flüchtlinge gingen ihm nach seinen Besuchen in Myanmar und Griechenland nicht mehr aus dem Kopf: „Ich denke ständig an die Menschen in Palong, aber auch Moria.“
Es ist nicht nur im Bundestag: Wo immer Müller auftritt, könnte man meinen, der Papst spricht. „Afrika ist nicht arm, wir haben es arm gemacht“, sagt er dann. Oder: „Jedes Kind, jeder Hungernde könnte überleben.“ Beliebt ist auch die Forderung: „Wir müssen andere an der Entwicklung, unserem Wohlstand teilhaben lassen. Wenn heute zehn Prozent der Weltbevölkerung 90 Prozent des Vermögens besitzen, haben wir ein Verteilungsproblem.“
Seit fast sieben Jahren ist Gerd Müller nun Minister im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Und wenn es um die Armen und Schwachen in der Welt geht, haben sie keinen verlässlicheren Verbündeten als den Allgäuer. Zumindest verbal. Er mahnt die EU-Kommission in Brüssel, „Afrika endlich als Jahrhundertaufgabe zu begreifen“. Oder er postuliert: „Öffnet die Märkte für alle afrikanischen Güter!“ Mal fordert er „einen EU-Kommissar für Afrika“, mal will er „eine europaweite Finanztransaktionssteuer einführen“.
Der Minister ist der unumstrittene Frontmann der deutschen Entwicklungsszene. Kritisch, politisch korrekt wie niemand sonst im Kabinett. Keiner fordert so weitreichend, keiner sieht die Probleme so global, kein Kabinettsmitglied fährt der Politik der Kanzlerin - zumindest rhetorisch - so energisch in die Parade.
Die beiden Probleme daran: Es folgt nichts daraus. Und: Niemand stört sich daran. Kein Minister des Merkel-Kabinetts würde sich trauen, seinen Wünsch-Dir-Was-Katalog über Jahre hinweg ähnlich folgenlos zu präsentieren. Der Grund: Es gibt keine kritische Öffentlichkeit mehr. Die Bewegungen früherer Jahre (Nicaragua, Südliches Afrika, Lateinamerika etc.), die viel Wissen ansammelten, haben sich aufgelöst, an den Hochschulen dämmert der Entwicklungsdiskurs vor sich hin, und auch den Medien ist die Expertise weitgehend verloren gegangen. Die Nord-Süd-Differenz ist kein öffentlich zu verhandelndes Thema mehr.
So kann Müller weitgehend unbeachtet vor sich hinwerkeln - zumal er in der CSU als Erfolgsgarant gilt. Während sich die Parteikollegen Horst Seehofer und Andreas Scheuer im Innen- und Verkehrsministerium mit unschönen Themen wie Migration und Rassismusvorwürfen gegen die Polizei, mit verpatzten Bußgeldkatalogen und einem Maut-Untersuchungsausschuss abmühen müssen, gilt Müller als umtriebig und erfolgreich. Vor allem, weil er für seinen Haushalt Jahr für Jahr mehr Geld herausholt. Was wiederum in Zeiten sprudelnder Steuermilliarden keine große Polit-Kunst erfordert hat.
Dass Müller viel ankündigt und wenig umsetzt, wer verfolgt es also? Auch dass er zwar regelmäßig seinen Parteifreunden widerspricht, aber zumeist als Verlierer vom Platz geht, fällt nicht weiter auf. Dass seine Partei zuhause in Bayern eher die Automobilindustrie als das Klima schützt, sich eher um die Subventionen der bayerischen Bauern als um faire Handelsverträge mit Westafrika sorgt, dass sieb Nationaler Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) von der eigenen Partei torpediert wird - wen kümmert es?
Es kümmert vor allem die nicht, die die größten Profiteure des steten Mittelflusses aus seinem Hause sind: die deutschen Nichtregierungsorganisationen. Die Organisationen, die deutsche Entwicklungsgelder in konkrete Projekte umsetzen. Es sind jene Organisationen, die Jahrzehnte lange Erfahrung im Entwicklungsbereich mitbringen. Die Fachleute in Dutzende Länder der Welt entsenden. Die sich theoretisch und praktisch mit den Möglichkeiten und Grenzen der Hilfe auseinandersetzen.
Es ist noch nicht lange her, da verstanden sich die entwicklungspolitischen Organisationen in der Nord-Süd-Diskussion als Treiber grundlegender Debatten und Auseinandersetzungen. Die wurde lange Jahre hitzig geführt, häufig auch überhitzig, mit Kampfbegriffen wie kolonialer Ausbeutung, imperialistischer Westen und kapitalistische Produktionsweisen.
Es waren Jahre, in denen sich die NGOs als Impulsgeber und kritisches Korrektiv gleichermaßen verstanden. Verlässlich standen sie auf der Seite der vermeintlich Schwächeren. Auch die Kirchenorganisationen mischten mahnend mit. Sie erhoben hörbar die Stimme, wenn Hilfe zum Instrument im Kalten Krieg verkam, der Internationale Währungsfonds (IWF) den Ländern des Südens Spardiktate verordnete, und sie waren auch maßgebliche Träger von Kampagnen wie „Erlassjahr - Entwicklung braucht Entschuldung“.
Die NGOs befeuerten Debatten, boten Experten auf, und auch an den deutschen Hochschulen war Entwicklungspolitik ein gefragtes Fach. Dieter Senghaas präsentierte seine Dependenztheorie, Franz Nuscheler und Dieter Bohlen entwickelten ihr magisches Fünfeck, und Brigitte Erler mischte die Szene mit ihrer Streitschrift von der „Tödlichen Hilfe“ auf. Eine schlichte Verknüpfung von Entwicklungspolitik und Migration, „Fluchtursachen bekämpfen“ und Agenda 2030, wie sie von den Regierungsparteien heute vorgetragen wird, wäre undenkbar gewesen.
Und heute?
Heute mahnt niemand mehr. Es gibt auch keine Kampagnen mehr. Wenn heute Angela Merkel die großen Hilfsorganisationen ins Kanzleramt lädt, ist es eine Kuschelveranstaltung. Die Gäste kommen gerne. Einer von ihnen räumt ungeniert ein: „Wenn wir bei der Kanzlerin sind, sind wir immer ganz beeindruckt.“ Ein anderer bekennt: „Ich habe mich da immer wohl gefühlt.“ Im Gegenzug schmückt die Kanzlerin regelmäßig die Titelseite des Jahresberichts von Venro, der Standesorganisation der Entwicklungs-Verbände. Kanzlerin und Müller haben es zur Strategie entwickelt, die Organisationen zu umarmen, bis denen die Luft ausgeht. Und die lassen es widerstandslos geschehen.
Sind sie verstummt, weil sie die Politik des Ministers - ganz im Unterschied zu seinem Vorgänger Dirk Niebel, FDP - für konsistent und überzeugend halten? Weil sie Teil einer angeblichen Erfolgsgeschichte sind? Oder vielleicht vor allem deshalb, weil sie Teil einer Maschinerie geworden sind, von der sie maximal profitieren? Tatsache ist, dass sie Milliarden von Euro an Mitteln erhalten, die sie in Projekte, Beraterverträge und Personal umsetzen. Mittel, mit denen sie selbst stetig weiter wachsen.
Es spricht einiges dafür, dass die win-win-Situation den Diskurs abgetötet hat. Der Minister hat reichlich Geld zur Verfügung. Und die Hilfsorganisationen sichern sich damit Projekte und Stellen - zumal die öffentlichen Mittel für ihre Arbeit inzwischen ungleich wichtiger sind als die Spenden. Das Spendenaufkommen stagniert seit Jahren, während die öffentlichen und internationalen Mittel unablässig wachsen. Einer der NGO-Repräsentanten bekennt denn auch: „Wenn wir dreimal im Jahr bei Müller sitzen, ist Geld immer das Wichtigste.“
Weil gute Beziehungen zu politischen Entscheidern von hohem Wert sind, hält sich die Deutsche Welthungerhilfe traditionell den Bundespräsidenten als Schirmherrn, für World Vision stehen Polit-Prominente wie Ex-Außenminister Sigmar Gabriel oder der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier ein, und das Bündnis Aktion Deutschland hilft ernannte Außenminister Heiko Maas zum Kuratoriumsvorsitzenden. Wer sich selbst so einrahmt, tut sich naturgemäß schwer, die Bundesregierung zu kritisieren.
Dabei es gäbe in diesen Zeiten manches zu sagen zum Thema Nord-Süd. Etwa zur Vermischung von Fluchtursachen, Migration und Entwicklung. Zur vorübergehenden Überlegung der Bundesregierung, Asylzentren in der Sahara zu errichten. Oder zu den immer noch ungleichen Handelsbeziehungen. Oder zur Klimakrise, die iweltweit Millionen von Menschen in die Migration zwingt. Doch wo früher der kollektive Aufschrei war, wo die NGOs als watchdog bissig dagegen hielten und sich durchaus auch konstruktiv in die Debatte einbrachten, ist nichts mehr. Es herrscht kollektives Schweigen. Oder wie es die Afrika-Expertin Annette Weber von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vor einiger Zeit formulierte: „Es gibt eine deutliche Entpolitisierung der NGOs. Sie sind raus aus der politischen Auseinandersetzung und der Forderung, dass auch Regierungen eine politische Verantwortung übernehmen.“
Müller hatte seine Charmeoffensive früh begonnen. Gleich nach Amtsantritt bat er die Venro-Vertreter zu sich, die Vorsitzenden der großen Verbände lud er ein, ihn auf Auslandsreisen zu begleiten. Sein Planungsstab rief die NGOs zum vertraulichen Gespräch, und auch die finanziellen Zuwendungen begannen von 2013 an zu sprudeln. Müller war das Gegenmodell zu Vorgänger Niebel, der die NGOs auf Abstand gehalten und als „Barfußprediger“ verspottet hatte.
Es war eine Strategie mit Erfolg. Dass die Bundesregierung die Hilfen für Afrika zum Instrument ihrer Sicherheitsinteressen macht? Dass sie dort auf nationale Abschottung setzt und für Zäune plädiert, während diese in Europa abgebaut werden? Dass die Rückführung von Migranten zu einem neuen entwicklungspolitischen Schwerpunkt des BMZ definiert werden sollte? Dass der groß angekündigte Marshall-Plan mit Afrika gerade einmal sechs von 54 Ländern zugute kommt? Es gäbe viel anzumerken zur entwicklungspolitischen Strategie der Bundesregierung. Auch zu ihrer Erfolgsbilanz.
Wie man es anders macht, zeigen die deutschen Umwelt-NGOs, die die politischen Entscheider seit einiger Zeit vor sich her treiben. Sie bringen die Menschen auf die Straße, sie mobilisieren die Medien, sie suchen die Kooperation mit der Wissenschaft. Während die NGOs, die sich um das Klima-Thema kümmern, die Bundesregierung kritisieren und attackieren, auf einen schnelleren Kohleausstieg drängen, eine höhere CO2-Steuer und überhaupt mehr Ehrgeiz beim Klimaschutz einfordern, schweigen die Entwicklungsorganisationen. Mit kleinen Ausnahmen bei Themen wie Seenotrettung oder Humanitärer Hilfe.
Lieber fliegen sie zum Zwecke der Spendenakquise Prominente in Dürregebiete als harte, nachvollziehbare politische Forderungen zu formulieren. Lieber schreiben sie Anträge für neue millionenschwere Projekte, als mit provozierenden Fragen einen neuen Nord-Süd-Diskurs anzustoßen.
Intern gibt es durchaus selbstkritische Debatten. Nur öffentlich sollen sie nicht werden. „Die Entwicklungszusammenarbeit stellt sich zu sehr in den Dienst der Migrationskontrolle - leider“, hieß es vor einiger Zeit schon bei „Brot für die Welt“. Und der Abteilungsleiter Politik einer anderen großen NGO bekennt: „Wir dachten am Anfang, Müller sei einer von uns.“ Ein Kollege auf Arbeitsebene bringt die Sache schließlich auf den Punkt: „Wir erreichen mehr, wenn wir nicht laut werden.“
So viel Geschmeidigkeit im Umgang mit den Regierenden gefällt nicht allen. „Professionelle NGOs werden in vielen Fällen als Co-Eliten betrachtet und von Regierungen auch so instrumentalisiert“, schrieb vor einiger Zeit in einem Venro-Papier Barbara Unmüssig, Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung, die selbst der NGO-Szene entstammt. „Das führt dazu, dass sie entlang ähnlicher politischer und ökonomischer Sachzwänge Hand in Hand mit staatlichen Institutionen agieren und ihre Watchdog-Funktion und ihre Rolle als Gegenöffentlichkeit verlieren.“
Müller immerhin hat dazu gelernt. Für das schon 2016 verabschiedete Lieferkettengesetz, mit dem er nicht vorankam, hat er sich inzwischen SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil ins Boot geholt. Nun soll sich der Bundestag im Herbst damit befassen. Unternehmen und der CDU-Wirtschaftsminister blockieren, und noch ist die Sache längst nicht in trockenen Tüchern, doch Müller hat schon wieder neue Pläne: Bis Ende des Jahres, während der deutschen Ratspräsidentschaft, will er EU-weit den Kampf gegen die Kinderarbeit zu einem Schwerpunkt machen. Zudem, so kündigte er vollmundig an, sollen noch in diesem Jahr die Grundlagen für ein europäisches Lieferkettengesetz geschaffen werden. In Deutschland quält er sich seit Jahren mit dem entsprechenden Gesetz, aber in Europa will er damit durchstarten?
Man ahnt schon: Auch daraus wird wohl nichts werden. Es wäre das erste Gesetz, das Müller in Brüssel wirklich durchkämpft. Auch diesmal wird man von den NGOs wenig hören. Der Abteilungsleiter einer großen NGO nennt das Kind beim Namen: „Wenn wir mal Nein sagen, werden wir nicht mehr gefragt - das ist die Angst.“