Beitrag vom 16.07.2020
Zeit Online
Fünf vor acht / Humanitäre Hilfe
Die westlichen Afrika-Retter sind nicht unschuldig
Eine Kolumne von Andrea Böhm
Das Coronavirus könnte die globale Ungleichheit drastisch vertiefen. Was kann die humanitäre Hilfe leisten? Die Debatte um Reparationen wird nun jedenfalls geführt.
Es war Ende März, die halbe Welt bereits im Lockdown eingefroren, als (mehrheitlich weiße) Vertreter internationaler NGOs in einem Webinar über humanitäre Hilfe in den Zeiten von Corona diskutierten: Was tun, wenn alle Flughäfen geschlossen sind? Wenn die reichen Geldgeber in der Pandemie andere Prioritäten setzen? Wenn Menschen im globalen Süden Helfer aus dem globalen Norden vor allem als Träger des Virus ansehen und ihnen immer mehr Misstrauen, gar Wut entgegenschlägt?
Eines sei klar, sagte damals eine junge französische Mitarbeiterin einer NGO im Libanon: Die Ära des um die Welt jettenden westlichen Retters "ist jetzt endgültig vorbei".? Der Satz ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und er hat in der globalen Diskussion über Rassismus nach dem Mord an George Floyd eine neue Dimension erhalten. In Ländern des globalen Südens, allen voran in afrikanischen, sind Corona-Krise, Armut und koloniale Vergangenheit untrennbar miteinander verknüpft. Journalisten wie der Kenianer Patrick Gathara werfen ihren politischen Eliten vor, bei der Bekämpfung der Pandemie genau die gleichen repressiven Methoden anzuwenden wie einst britische oder französische Kolonialherren bei Epidemien. Historiker erinnern daran, dass Abertausende Einheimische in Zeiten des Kolonialismus an aus Europa eingeschleppten Seuchen starben.
Inmitten der Corona-Krise stellen Aktivisten und Autoren mit neuer Vehemenz auch die westlichen "Afrika-Retter" infrage. Ist humanitäre Hilfe wirklich so "unschuldig" und unpolitisch, wie sie klingt? Warum sind die Helfer in der medialen Wahrnehmung fast immer weiß, die Hilfsbedürftigen fast immer schwarz? Und: Behindert das System der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit nicht genau das, worum es eigentlich gehen muss – nämlich soziale und globale Gerechtigkeit?
Was wir heute unter humanitärer Hilfe verstehen – also die schnelle Unterstützung von Menschen, deren Leben und Gesundheit akut durch Katastrophen oder Konflikte bedroht sind – nahm seinen Anfang vor fast genau 50 Jahren in Biafra. Die Älteren erinnern sich noch an den Namen. Genauer gesagt, an die Bilder von schwarzen hungernden Kindern mit bleistiftdünnen Armen oder aufgequollenen Bäuchen. Sie waren Opfer eines Bürgerkrieges zwischen der nigerianischen Zentralregierung und der Aufstandsbewegung für ein unabhängiges Biafra. Letztere wurde 1970 nach zweieinhalb Jahren niedergeschlagen. Bis zu zwei Millionen Menschen starben, die meisten in einer Hungersnot – absichtlich verschärft durch die Blockade des nigerianischen Militärs.
Es hätte weit mehr Tote gegeben, hätten europäische Organisationen nicht über eine Luftbrücke Nahrungsmittel nach Biafra geliefert. Es war die erste westliche humanitäre Hilfskampagne, die unter dem Eindruck horrender Fernseh- und Zeitungsbilder mobilisiert wurde. Zweifellos ein Erfolg, der zur Gründung prominenter NGOs wie Médecins Sans Frontières führen und den Grundstein für das heutige System der Nothilfe legen sollte.
Die westliche Schablone des hilflosen Afrikaners
Biafra markierte aber auch den Beginn der medialen Kolonisierung des Elends. Die dramatischen Aufnahmen schwarzer hungernder Kinder überlagerten Geschichte, Ursachen und die Politik des Konflikts. Sie überlagerten auch die selbst organisierte lokale Solidarität der Menschen in Biafra, die längst angelaufen war, bevor auch nur eine Notration aus dem Ausland eintraf.
In Biafra entstand damals die westliche Schablone der ewig hilflosen Afrikaner, die – nach der Unabhängigkeit ihrer Staaten sich selbst überlassen – von wohlmeinenden Weißen vor dem Schlimmsten bewahrt werden mussten. Abgesehen davon, dass ein Großteil der Nothilfe bei Kriegen oder Naturkatastrophen nicht von außen, sondern unmittelbar von den Betroffenen vor Ort geleistet wird, erinnert dieses Narrativ verdächtig an die koloniale Ideologie der "Missionierung der Wilden".
Diese "Missionierung", so der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Uzodinma Iweala, Autor des internationalen Bestsellers Beasts of No Nation über einen Kindersoldaten, war die moralische Legitimierung der jahrhundertelangen Ausbeutung anderer Kontinente. Sie bildete das Fundament des europäischen Wohlstands. "Europäer erklärten sich zu den Wächtern der gewaltigen Reichtümer Afrikas, bis deren Bewohner reif genug wären, sie selbst zu verwalten."
Genau darin liege auch die Wurzel der heutigen westlichen Philanthropie gegenüber Afrika. "Das ist, als käme ich in Ihr Haus, würde Ihnen alles stehlen, Sie auf die Straße werfen, um dann der Welt zu verkünden, dass ich mich notgedrungen um Sie, diesen Haufen ungewaschenes Elend, kümmern werde." Diese Sätze haute Iweala schon vor drei Jahren den überwiegend weißen Teilnehmern einer Genfer Konferenz über die Zukunft der humanitären Hilfe um die Ohren. Die Anwesenden waren einigermaßen konsterniert.
Hilfe in den politischen und historischen Kontext stellen
Iweala fordert nicht die Abschaffung der Hilfe. Er fordert, sie in ihren politischen und historischen Kontext zu stellen. Was niemand in Europa gern tut, denn dann "landet man schnell bei dem gefürchteten ‚R‘-Wort: Reparationen". Hilfe nicht als freiwilliger Akt des Mitleids und Wohlwollens, sondern als Akt der Gerechtigkeit, der einklagbaren Entschädigung. Iweala hat auch gleich eine Zahl parat: 97 Billionen Dollar. So viel wäre nach einer Berechnung des Guardian die Arbeit aller Sklaven der europäischen Kolonien in Nordamerika zwischen 1619 und 1865 wert, legte man den aktuellen Mindestlohn in den USA zugrunde.
Oh oh, wo soll das hinführen, werden jetzt manche seufzen. Ganz einfach: in eine Debatte um Reparationen. Sie hat auch schon längst begonnen – in den USA, wo eine entsprechende Kongressvorlage seit Längerem vorliegt, wenn auch mit wenig Aussicht auf Erfolg bei den aktuellen Machtverhältnissen.
In den karibischen Staaten, die mit einem Zehn-Punkte-Plan Entschädigung von europäischen Ländern fordern. In Namibia, wo sich Verhandlungen über eine Entschädigung Deutschlands für den Völkermord an den Völkern der Herero und Nama quälend lang hinziehen – was nicht nur an der deutschen Seite liegt.
Keine Schlussstrich-Proklamationen
Es geht letztlich nicht um konkrete Summen und schon gar nicht um Schlussstrich-Proklamationen. Es geht brandaktuell um die Frage, ob eine historisch verwurzelte und auch durch Rassismus manifestierte globale Ungleichheit in den Zeiten von Corona drastisch vertieft wird. Oder ob eine neue Bereitschaft in Europa und den USA, die Ursprünge des eigenen Reichtums zu hinterfragen, auch in konkrete Politik für ein globales Gemeinwohl mündet. Was das in der Corona-Krise bedeuten würde? Medikamente, Diagnostik, zukünftige Impfstoffe für alle und zwar kostenlos. Finanziert aus einem Fonds mit Geld reicher Staaten (verrechenbar auch als Anzahlung auf Reparationen). Abgesichert durch internationale Abkommen, die alle Forschungseinrichtungen und Pharmakonzerne verpflichten, ihr Wissen und ihre Daten zur Verfügung zu stellen.
Klingt utopisch? Vielleicht. Aber genau das haben im Mai dieses Jahres Dutzende amtierender und ehemaliger Staatschefs gefordert. Darunter die Präsidenten von Ghana, Südafrika, Senegal und Pakistan. "The People’s Vaccine" heißt ihr Aufruf. Für alle. Überall. Umsonst.