Beitrag vom 05.09.2019
FAZ
Afrikas gelähmter Riese
Nigerias Wirtschaft wächst langsamer als das Volk – das ist ein Problem. Fachleute werfen dem Präsidenten gleich mehrere Fehler vor.
ppl./tht. LONDON/KAPSTADT, 4. September. Die größte afrikanische Volkswirtschaft mit fast 200 Millionen Einwohnern schleppt sich mit langsamem Wirtschaftswachstum dahin. Das Wachstum ist im zweiten Quartal unter die 2-Prozent-Linie gesunken, wie das Statistikamt in Abuja mitteilte. Das ist weniger als die Bevölkerungszunahme, die laut Weltbank bei 2,6 Prozent liegt. Nigerias Einwohnerzahl wächst jährlich um 5 Millionen. „Es ist nun schon das fünfzehnte Quartal in Folge, dass die Wirtschaftsleistung weniger wächst als die Bevölkerung, so dass die Pro-Kopf-Einkommen fallen“, stellt der Analyst John Ashburn von Capital Economics in London fest. Die britischen Ökonomen prognostizieren für das Land nur 2 Prozent Wachstum in diesem und im kommenden Jahr. „Das wäre ein schreckliches Resultat für ein Land wie Nigeria mit dem dortigen Einkommensniveau“, so Ashburn.
Nigerias Wirtschaft entwickelt sich schwach trotz eines Anstiegs der Erdölproduktion, die im Frühjahr um 13 Prozent höher war als im Vorquartal. Das Land ist stark abhängig von den Öleinnahmen, zwei Drittel der Staatseinnahmen und sogar 90 Prozent der Devisen kommen vom Ölverkauf. Nach dem Preisverfall 2014 brach das BIP 2015 und 2016 ein und hat sich noch nicht erholt. Zudem hat Nigeria Probleme, das Rohöl zu verarbeiten, weil seine Raffinerien veraltet sind. Auch die Landwirtschaft, in der die Mehrheit der Nigerianer arbeitet, wächst nur schwach. Der Industriesektor und der Handel klagen über die Devisenkontrollen, die Importe erschweren.
Mitschuld an der schlechten Lage geben Ökonomen der Politik von Präsident Muhammadu Buhari. „Die neuen Zahlen zeigen, welchen Schaden die protektionistische Politik von Buhari anrichtet“, sagte Ashburn. Der Präsident behauptet, die Kombination aus Importbeschränkungen, Devisenkontrollen und Krediten für bestimmte Branchen würde die Abhängigkeit vom Erdöl reduzieren und das Wachstum von Landwirtschaft und Industrie fördern. Das Gegenteil trat ein. „Diese Politik hat die Industrie geschädigt, die vom Import von Vorprodukten abhängig ist“, betont Ashburn. Ziehe man den Ölsektor ab, liege die Industrieproduktion heute niedriger als 2015.
Der 76 Jahre alte Buhari, ein früherer Armeegeneral, der in den achtziger Jahren erstmals durch einen Putsch an die Macht kam, wurde 2015 demokratisch ins Präsidentenamt gewählt und im Februar 2019 wiedergewählt. Eines seiner Versprechen war es, die Wirtschaft Nigerias zu diversifizieren, um von der Öl-Abhängigkeit wegzukommen. Mitte August hat er angekündigt, die Einfuhr von Lebensmitteln einzustellen, um die einheimische Landwirtschaft anzukurbeln. Zuvor hatte die Regierung schon den Import von Reis und Milch stoppen lassen. Dass Nigeria, wie Buhari behauptet, Lebensmittelsicherheit erreicht habe, bezweifeln Beobachter. Nach einer Schätzung des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen Unicef sind rund zwei Millionen Kinder unterernährt; nach den jüngsten Weltbank-Zahlen leben 46 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Besonders schlimm ist die Situation im Norden des Landes, wo die islamistische Terrororganisation Boko Haram wütet. Zwar hatte Buhari schon kurz nach seiner Amtsübernahme im Jahr 2015 die Dschihadisten für besiegt erklärt, allerdings hat die Zahl der Überfälle in letzter Zeit wieder zugenommen. Ende Juli erst wurden in der Nähe der Provinzhauptstadt Maiduguri mindestens 65 Bewohner eines Dorfes massakriert. Seit Beginn des Boko-Haram-Terrors vor rund zehn Jahren sollen in dem Konflikt rund 27000 Menschen ihr Leben verloren haben; 1,8 Millionen Nigerianer wurden vertrieben.
Im Zentrum des Landes häufen sich derweil die Übergriffe von Nomaden auf Ackerbauern. Kritik an der Regierung wird mittlerweile auch von der katholischen Kirche geäußert. „Wir haben einen Anspruch darauf, dass sich die Sicherheitslage verbessert, wir müssen uns frei innerhalb unseres Landes bewegen können“, forderte Ignatius Kaigama, Bischof in Abuja, kürzlich in einem Interview. Katastrophal ist auch die Bildungspolitik. Nur 7 Prozent des Staatsbudgets fließen in die Bildung, 3 Prozentpunkte weniger als unter der Vorgängerregierung. Eine der Folgen: 10,5 Millionen schulpflichtige Kinder haben noch nie eine Schule von innen gesehen. Umfragen zufolge misstraut die Mehrzahl der Nigerianer ihrer Führung. Als im Februar Präsidentschaftswahlen stattfanden, lag die Wahlbeteiligung nur bei 35 Prozent, in der Megametropole Lagos bei nur 17 Prozent. Das schwache Wirtschaftswachstum belastet die Staatsfinanzen. Seit dem Ölpreisverfall sind die Staatsschulden von 65 Milliarden Dollar auf mehr als 81 Milliarden Dollar gestiegen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat gewarnt, dass ohne Reformen der öffentlichen Finanzen der Schuldendienst das Land erdrückt. Die Zinszahlungen könnten im Jahr 2024 auf 75 Prozent der Staatseinnahmen steigen. Jüngst hat der Senat einen Haushalt mit Einschnitten beschlossen.