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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 09.07.2018

FAZ

Demographie

Afrikas Kinder und die Zukunft Europas

Die Bevölkerungsexplosion in Afrika und Arabien trifft auf den demographisch schrumpfenden europäischen Kontinent. Absehbar ist ein gewaltiger Migrationsdruck. Gedanken zum Weltbevölkerungstag.

Von Thilo Sarrazin

Der 11. Juli wurde von den Vereinten Nationen vor fast dreißig Jahren zum „Weltbevölkerungstag“ erklärt. Damals, 1989, überschritt die Weltbevölkerung erstmals die Marke von 5 Milliarden Menschen. Heute sind es schon 7,6 Milliarden Menschen. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wird die Erdbevölkerung in Richtung 10 Milliarden Menschen oder gar mehr zunehmen. Vor allem die nach wie vor explosionsartige Bevölkerungsentwicklung in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten schiebt dieses gewaltige Wachstum an, während die europäischen Bevölkerungen längst schrumpfen.

Der englische Pfarrer und Sozialforscher Robert Malthus hat 1798 sein Bevölkerungsgesetz formuliert, wonach die natürliche Vermehrung der Menschen in geometrischer Progression (2, 4, 8, 16, 32, 64, etc.) erfolge, während die Nahrungsmittelproduktion allenfalls in arithmetischer Reihe (2, 4, 6, 8, 10, 12) zunehme. Daraus erwachsende Spannungen lösen sich nach seiner Theorie periodisch durch Hungersnöte, Seuchen und Kriege auf. Darum sei die Welt solch ein Jammertal. Sein Ausblick war pessimistisch.

Zwei Entwicklungen, die Malthus nicht voraussah, widerlegten seinen Pessimismus:Der Fortschritt der Naturwissenschaften und die industrielle Revolution führten zu ungeahnten Produktivitätssteigerungen auch in der landwirtschaftlichen Produktivität, die bis heute anhalten. Als Malthus sein Bevölkerungsgesetz formulierte, lebten auf der Welt nur etwa 900 Millionen Menschen. Heute sind es 7,6 Milliarden, und sie sind größtenteils besser ernährt und leiden weniger Hunger als vor 200 Jahren.

Das Bevölkerungswachstum in den entwickelten Ländern schien die Befürchtungen von Malthus zu widerlegen: Sinkende Kindersterblichkeit, wachsender Wohlstand und zunehmende Bildung führten in der entwickelten Welt nach einer Phase starker Bevölkerungszunahme zu sinkenden Geburtenraten. Heute bekommt die autochthone Bevölkerung in Europa, Nordamerika und Ostasien durchweg weniger Kinder, als zur Bestandserhaltung notwendig wären, das natürliche Bevölkerungswachstum ist also negativ.

Die Bevölkerungswissenschaft hat das Gesetz vom demographischen Übergang formuliert: Auf sinkende Kindersterblichkeit und erhöhte Lebenserwartung erfolgt mit einer Zeitverzögerung von einigen Jahrzehnten der Rückgang der Geburtenziffern. So sank in Deutschland die Zahl der Kinder je Frau von 1880 bis 1930 von 5,2 auf 2,0 und liegt seit Anfang der siebziger Jahre bei 1,4 bis 1,5. Jede nachfolgende Generation ist damit um rund ein Drittel kleiner als die Elterngeneration. Eine ähnliche Entwicklung stark sinkender Geburtenraten vollzog sich überall in der entwickelten Welt, zuletzt auch in den Ländern des Fernen Ostens, insbesondere in China. Auch Indien erfährt mit einiger Verzögerung einen nachhaltigen Rückgang der Geburtenraten.

Ganz anders ist dagegen die Entwicklung in den meisten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und Afrikas. Dort ist von einer Abschwächung der Geburtenraten nur wenig zu sehen. Auch die schrecklichen kriegerischen Verwicklungen in vielen dieser Länder scheinen das Bevölkerungswachstum eher anzustacheln, als zu dämpfen. Wir haben es hier mit einer Bevölkerungsexplosion zu tun, die welthistorisch ohne Beispiel ist.

Ein paar Zahlen verdeutlichen die Dynamik: Seit 1945 hat sich die Bevölkerung in Afrika verfünffacht, in Afghanistan vervierfacht, in Palästina verfünffacht, in Syrien verfünffacht und im Irak versechsfacht. Durchschnittlich alle 25 Jahre verdoppelt sich gegenwärtig die Bevölkerung in Afrika und den Krisenländern des Nahen und Mittleren Ostens, und dieser Trend verändert sich offenbar auch künftig kaum: Für Afrika sieht die mittlere Variante der UN-Prognose bis zum Jahr 2050 eine weitere Verdoppelung vor, von 1,2 Milliarden auf 2,5 Milliarden Menschen, ebenso für Länder wie Syrien, den Irak, Palästina oder Afghanistan. Länder wie Marokko, Ägypten, Syrien und der Irak leiden wegen des Bevölkerungswachstums bereits heute unter einer systematischen Übernutzung ihrer Wasserressourcen. Der Grundwasserspiegel sinkt dramatisch. Die dadurch ausgelöste Krise der Landwirtschaft war ein wesentlicher Grund für den syrischen Bürgerkrieg.

1950 lebten in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten rund 350 Millionen Menschen, heute sind es rund 1,8 Milliarden. Im Jahr 2050, also in 32 Jahren, werden es nach der mittleren UN-Prognose in Afrika sowie in Nahen und Mittleren Osten rund 3,6 Milliarden sein, und für 2100 schätzten die UN für diese Gebiete eine Bevölkerung von 5,5 Milliarden Menschen voraus – gut die Hälfte der gesamten Erdbevölkerung soll dann in diesen instabilen und armen Regionen leben. Die ärmsten Länder der Sahelzone haben dabei die höchsten Geburtenraten – etwa Niger mit 7 Kinder je Frau.

Jahr für Jahr werden gegenwärtig in Afrika und im westlichen Asien 58 Millionen Menschen neu geboren. In Nigeria allein gibt es mit jährlich 7 Millionen mehr Geburten als in der gesamten EU und zehnmal so viele wie in Deutschland. Etwa die Hälfte der Bevölkerung in vielen Ländern Afrikas ist weniger als 18 Jahre alt. Selbst wenn die Zahl der Kinder je Frau – gegenwärtig 5 im afrikanischen Durchschnitt – deutlich sinkt: Aufgrund der enorm jungen Bevölkerung mit sehr vielen Menschen im reproduktiven Alter wird der demographische Schub noch für Jahrzehnte gewaltig bleiben.

Die Theorie des demographischen Übergangs wurde nach den Erfahrungen der Industriestaaten formuliert. Bei allen Unterschieden waren bei der Entwicklung der Industriestaaten wissenschaftlicher Fortschritt, Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel eine Einheit, die auch gesellschaftliche Mentalitäten und individuelle Verhaltensweisen organisch umschloss. In den Ländern mit anhaltender Bevölkerungsexplosion hat sich dagegen dieser organische Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Mentalität und den Auswirkungen der modernen Medizin und Hygiene auf Kindersterblichkeit und Lebenserwartung bis heute nicht eingestellt. Offenbar ticken die Menschen dieser Länder anders; kulturelle Prägungen und Einstellungen, etwa der Wunsch nach großen Familien, scheinen eine wichtige Rolle zu spielen.

Die von anhaltender Bevölkerungsexplosion betroffenen Völker und Staaten profitieren bei Kindersterblichkeit und Lebenserwartung von den Leistungen einer importierten wissenschaftlich-technischen Kultur der westlichen Industrieländer, die ihnen innerlich fremd ist. Deshalb fremdeln sie auch mit der natürlichen, absolut zwingenden Antwort auf die Bevölkerungsexplosion, die nur in mehr Familienplanung und systematischer Geburtenkontrolle liegen kann. Wo es hier an Fortschritten fehlt, sind die Auswirkungen katastrophal und werden in Zukunft noch katastrophaler werden.

Offenbar hat das Sinken von Geburtenraten mit der Bildung der Frauen und ihrer Rolle in der Gesellschaft und der Familie zu tun. Hier streitet Modernität mit traditionellen Rollenzuweisungen für die Frauen, aber in den letzten Jahren auch mit dem Vordringen eines konservativen Islams, der die sehr frühe Heirat von Mädchen zulässt und befördert. So beobachten wir gegenwärtig in den Staaten Zentralasiens, die ehemals zur Sowjetunion gehörten, dass mit der erneuten Islamisierung ein bedenklicher Anstieg der Geburtenraten einhergeht.

Frauenbildung, Frauenrechte und Frauenerwerbstätigkeit sind die beste und womöglich einzige Strategie für die Absenkung von Geburtenraten. Sie müssen aber aus dem Inneren einer Gesellschaft quasi erwachsen und können ihr nicht von außen aufgezwungen werden. China hatte in den achtziger Jahren nur deshalb Erfolg mit seiner Ein-Kind-Politik, weil die Instrumente diktatorischen Zwangs zur Verfügung standen und auch brutal eingesetzt wurden. Das demokratisch regierte Indien scheiterte gleichzeitig bei seinen Kampagnen zur Sterilisierung und Empfängnisverhütung. Erst seit einigen Jahren sinken dort die Geburtenraten als Folge der allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierung. In positivem Sinn spektakulär ist die Entwicklung in Bangladesch: Der Aufbau der Textilindustrie (in der vorwiegend Frauen beschäftigt sind) bewirkte dort einen rapiden Rückgang der Geburtenraten. In Pakistan dagegen bleibt die Geburtenrate auf vormodern hohem Niveau und ist heute kaum niedriger als in den fünfziger Jahren.

So scheint die Therapie für die Länder mit anhaltender Bevölkerungsexplosion in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten vorgezeichnet: Durch entsprechende Reformen muss die Breitenbildung der Menschen, darunter vor allem der Frauen, umfassend verbessert werden. Durch wirtschaftliche Entwicklung muss die Erwerbsbeteiligung der Frauen gesteigert werden.Hat man mit beidem Erfolg, sinken automatisch irgendwann die Geburtenraten. Allerdings kann kein Land zu einer solchen Entwicklung von außen veranlasst oder gezwungen werden, wenn die innere Bereitschaft dazu nicht vorhanden ist, die Widerstände zu groß sind oder das dazu notwendige moderne Weltverständnis fehlt.

Wie begrenzt die Möglichkeiten der Entwicklungshilfe sind, haben die vergangenen 70 Jahre gezeigt. Viele Entwicklungsökonomen gehen heute davon aus, dass die Entwicklungshilfe in der Summe eher wirkungslos war oder teils sogar mehr geschadet als genutzt hat. Die Länder des Fernen Ostens, durchweg eher rohstoffarm, haben ihren spektakulären Aufstieg aus eigener Kraft geschafft und sind dabei, den Westen zu überflügeln.

An positiven Entwicklungsvorbildern mangelt es Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten also nicht. Zwar hat sich das Wirtschaftswachstum in Afrika in den vergangenen zwei Jahrzehnten beschleunigt, doch die starke Bevölkerungswachstumsrate von 2,5 Prozent frisst einen Gutteil des Zuwachses wieder auf. Bis zum Jahr 2050 wird allein Afrika südlich der Sahara einen Nettozuwachs von 500 Millionen Arbeitskräften verzeichnen. Für zig Millionen junge Afrikaner und Araber fehlen Arbeitsplätze und berufliche Perspektiven.

Insbesondere seit dem Jahr 2010 wuchs die Auswanderung dramatisch an. Allein 1 Million Afrikaner aus Subsahara-Afrika wanderten seit 2010 nach Europa aus. Nach UN-Schätzungen sind insgesamt schon mehr als 9 Millionen Afrikaner nach Europa ausgewandert. In Ländern wie Nigeria, Ghana oder Senegal, keineswegs die Ärmsten unter den afrikanischen Staaten, gab jüngst in einer Studie des amerikanischen Pew-Forschungszentrums ein Drittel der Befragten an, dass sie eine Auswanderung planen.

Hier entfaltet sich eine Dynamik, die auch durch eine plötzlich erfolgreiche Entwicklungspolitik nicht zeitnah gestoppt werden kann. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es gegenwärtig eine Rekordzahl von 68,5 Millionen Flüchtlingen auf der Welt, die meisten leben in benachbarten Ländern nahe ihrer Heimat. Zu diesen, die in der Mehrzahl vor Krieg oder akuter Verfolgung flüchten, kommen noch Hunderte Millionen in Afrika und Asien, die wegen fehlender beruflicher Perspektiven gerne emigrieren würden.

Erfahrungsgemäß wandern nicht die ganz Armen aus, sondern jene, die genügend Geld haben und in der Lage sind, die weite Reise (und die Schlepper) zu finanzieren. Ein aktueller Forschungsbericht für das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) kommt zu dem Ergebnis, dass die Hoffnung, mehr Entwicklungshilfe werde die Auswanderung aus armen Ländern reduzieren, sich nicht erfüllen wird. Bei steigenden Pro-Kopf-Einkommen wird die Emigration aus Afrika erst einmal steigen. Länder mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 5000 bis 10000 Dollar (kaufkraftbereinigt) haben eine dreimal höhere Auswandererzahl als Länder mit 2000 Dollar Einkommen, so die Studie des Entwicklungsökonomen Michael Clemens (der übrigens für offene Grenzen und möglichst freie Migration wirbt). Erst ab 8000 bis 10000 Dollar sinke die Auswanderungsneigung.

Zwar ist „Fluchtursachen bekämpfen“ nötig, aber keine Lösung für den Auswanderungsdruck. Für eine verantwortungsbewusste Politik muss die Devise gelten: „Hope for the best, prepare for the worst.“ Die Sicherung der EU-Außengrenzen gegen illegale Immigration muss verstärkt werden. Erst dann, wenn klar ist, dass die Ankunft in Europa über illegale Einwanderung nicht mehr möglich ist, wird der Aufbruch nach Europa sich abschwächen und damit übrigens auch die Zahl der illegalen Einwanderer, die bei der Überfahrt mit seeuntüchtigen Booten sterben. Die EU-Kommission scheint diesen grundsätzlichen Zusammenhang zu verdrängen. Ihr Vizepräsident Frans Timmermans äußerte jüngst vor dem Europäischen Parlament: „Kein Zaun ist hoch genug, kein Meer breit genug, um unsere Länder immun zu machen gegen den größten Pull-Faktor, den es gibt – den Frieden, die Prosperität und die Stabilität unserer Union.“ Den Push-Faktor Bevölkerungsexplosion in den Auswanderungsländern ließ er unerwähnt. Will er uns damit sagen, dass Europa dieser Zuwanderung ausgeliefert ist, dagegen nichts Grundsätzliches tun kann und aus moralischen Gründen auch nicht tun darf?

Wenn auch nur ein geringer Teil des jährlichen Bevölkerungswachstums von 45 Millionen in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten in den kommenden Jahrzehnten nach Europa auswandert, wobei ein Großteil der Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme geht, wird dies Europa nicht nur wirtschaftlich gefährden, sondern auch kulturell und ethnisch schwer beschädigen oder gar zerstören: Ein Europa, in dem in wenigen Jahrzehnten in den Großstädten mehr Afrikaner und Araber leben als Europäer, wird ein Aliud sein, nicht mehr der Träger europäischer Kultur und Lebensart. Der britische Entwicklungsökonom Paul Collier weist auf den robust belegten Zusammenhang hin, dass umfängliche kulturfremde Einwanderung das Sozialkapital im Einwanderungsland beeinträchtigt und eine deutlich vergrößerte kulturelle Diversität Risiken für die Stabilität und den Wohlstand der Einwanderungsgesellschaft mit sich bringt. Damit zerstört Europa die Grundlagen seines Wohlstands und seiner Lebensart, ohne dass damit den Auswanderungsländern bei ihrer Bevölkerungsexplosion geholfen wäre.

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Dr. Thilo Sarrazin ist Ökonom, war SPD-Finanzpolitiker und Bundesbankvorstand und hat vieldiskutierte Bücher zum Thema geschrieben.