Beitrag vom 26.02.2017
SZ
Gambia
Jetzt geht’s los
Gambia ist klein, bettelarm und hat sich selbst aus der Diktatur befreit. Nun ruft das Land alle Flüchtlinge zurück. Über einen Neuanfang, der auch Europa Hoffnung macht
VON BERND DÖRRIES
Seit einer Stunde schon versucht die Fähre, am Hafen von Banjul anzulegen. Sie hat es von der linken Seite probiert und von der rechten, von vorne, von hinten. Sie hat jeden Poller im Hafenbecken mindestens fünf Mal gerammt. So langsam scheinen dem Kapitän die Ideen auszugehen, wie man das Land noch erreichen könnte. Ein Land, das sehr viele der Passagiere an Bord seit Monaten, Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben.
22 Jahre lang wurde Gambia von Yahya Jammeh beherrscht, der wohl nicht der blutigste Diktator in Westafrika war, aber einer der verrücktesten. Wenn er durch die Straßen fuhr, warf er manchmal Geld aus dem Fenster; eine Heilung für Aids hatte er angeblich schon vor Jahrzehnten entdeckt; wenn in den Gefängnissen gefoltert wurde, ließ er sich die Schreie auf sein Handy durchstellen. Er wollte „eine Milliarde Jahre“ regieren, und vielen kam es so vor, als sei das nicht völlig auszuschließen.
Nun ist Jammeh weg, und Hunderttausende Gambier aus der ganzen Welt machen sich auf den Weg zurück in ihre Heimat. Sie kommen mit dem Flugzeug aus den USA, aus Indien und dem Nahen Osten. Sie kommen mit Bussen aus Mauretanien und Senegal. Fast alle müssen dann auf die Fähre und über den riesigen Fluss, der so heißt wie das Land.
Der Kapitän setzt noch einmal zurück, neuer Anlauf. „Man hätte das Hafenbecken ausbaggern müssen. Man hätte die Fährgesellschaft privatisieren sollen. Man sollte einen Kapitän suchen, der schon mal ein Schiff gelenkt hat, ach Scheiße, man hätte so vieles machen müssen in diesem Land“, sagt Jaba, so soll man ihn nennen. Vor zehn Jahren ist er aus Gambia geflohen, erst nach Europa, dann nach Kanada. Dort arbeitete er zuletzt auf dem Bau, oben auf den Gerüsten der Hochhäuser. Gutes Geld gab es da, aber: „Heimat ist hier“, sagt der 36-Jährige. Also ist er zurückgekommen, um zu schauen, wie die Dinge sich entwickeln.
Gambia ist der kleinste Staat auf dem afrikanischen Kontinent, nur 1,8 Millionen Einwohner, aber einer mit größter Armut, aus dem, gemessen an der Gesamtbevölkerung, so viele Menschen nach Europa fliehen wie aus keinem anderen. Gambia, so der Wunsch vieler Regierungen in Europa, sollte jetzt zum Musterbeispiel dafür werden, wie man Afrika entwickelt, Arbeitsplätze und Perspektive schafft – und die Menschen von der Flucht nach Europa abhält. Und das möglichst schnell.
Die Hauptstadt Banjul ist flach, die Straßen sind sandig, auf ihnen fährt der übergroße Teil aller jemals produzierten Mercedes 190 als Taxi umher, mit Kilometerzahlen weit jenseits der 700 000. Die gelben Taxis bilden einen Kontrast zu den vielen weißen Landcruisern der Hilfsorganisationen, zu den Jeeps mit den Fähnchen der EU, der Vereinten Nationen und der Amerikaner. Alle wollen jetzt helfen.
Der neue Präsident war selbst einst Migrant. Er arbeitete als Sicherheitsmann in London
Vor ein paar Tagen tauchte plötzlich der britische Außenminister Boris Johnson auf. Er stand in einem Hotel und lobte die Gambier für ihre selbstbewusste Entscheidung, den Diktator abzusetzen. Er pries Afrika, sprach von großen Chancen, tollen Menschen. Einheimische Journalisten fragten Johnson, wie das denn gemeint war, als er vor Jahren im Spectator schrieb: Das Problem in Afrika „ist nicht, dass wir einst das Sagen hatten, sondern, dass wir nicht mehr das Sagen haben“. Seine Presseleute unterbanden die Fragen: Das sei kein Umgang mit einem Staatsmann.
Die Europäer sehen den Sturz des Diktators Yahya Jammeh vor allem als Signal dafür, dass die große Flucht nun endlich aufhört. Gambia und andere westafrikanische Staaten hingegen sind vor allem stolz auf einen Wechsel, den sie alleine erreicht haben. Es ist das erste Mal in der postkolonialen Geschichte des Kontinents, dass ausschließlich afrikanische Regierungen einen Diktator zum Rücktritt gezwungen haben. Gambia ist ein kleines Land, klar, aber es ist ein Anfang.
Und was für einer, das zeigte sich schon bei der Amtseinführung des neues Präsidenten im Nationalstadion von Banjul, einem Klotz aus Beton mit vier riesigen Lichtmasten. Etwa 20 000 Menschen passen in das Stadion, wohl fünf Mal so viele wollen die Zeremonie sehen. Und jeder, wirklich jeder trägt ein T-Shirt, auf dem steht: „Gambia has decided“, Gambia hat entschieden.
Eine der Verrücktheiten des Diktators Jammeh war es, dass er glaubte, das Volk würde ihn so abgöttisch lieben, dass er auch freie Wahlen gewinnen könnte. Nach 22 Jahren an der Macht war er dann von der Niederlage so überrascht, dass er erst seinen Rückzug ankündigte und dann das Gegenteil. Nach einem Monat Drohungen und Ultimaten schickte die westafrikanische Staatengemeinschaft entschlossen dreinschauende Soldaten, mit nagelneuen BMW-Motorrädern aus Senegal und Mannschaftswagen aus Nigeria.
Jammeh ist nun im Exil in Äquatorialguinea, etwa 100 Millionen Euro soll er aus der Staatskasse genommen haben. Am Tag der Unabhängigkeit Gambias wurde sein Nachfolger Adama Barrow ins Amt eingeführt. Um den hat sich ein Personenkult entwickelt, der fast schon die Dimensionen wie bei seinem Vorgänger annimmt. Nur dass die Gambier seine T-Shirts freiwillig tragen, seinen Namen freiwillig rufen. Der Immobilienhändler Barrow war bis vor wenigen Monaten selbst den meisten Gambiern unbekannt. Er war Schatzmeister einer der acht Oppositionsparteien, die sich für die Wahl im Dezember zum ersten Mal zusammengetan hatten – und völlig unerwartet gewannen.
Anfang der 2000er-Jahre ist Adama Barrow nach England gegangen, wie so viele andere Migranten, er hat in London als Sicherheitsmann in Ladenketten gearbeitet und nebenher ein Zertifikat in Immobilienwirtschaft erworben. Nach seiner Rückkehr hat er eine kleine Firma aufgebaut. Nun schreien die Menschen sich die Hoffnung aus dem Leib, wenn er durch die Stadt fährt. Auch die Touristen an den Stränden haben mitgekriegt, dass sich da etwas tut im Land, auch sie tragen Shirts mit Barrows Bild. Engländer reisen gerne nach Gambia, Niederländer auch, mit den Pauschalfliegern aus London und Amsterdam. Es gibt einen Traumstrand, aber keine gefährlichen Tiere, es gibt Wiener Schnitzel und das Bier für einen Euro.
Es werden diejenigen ausgebuht, die vor Kurzem noch die Befehle des Diktators eiligst umsetzten
Alle paar Stunden taucht der Präsident in irgendeinem Hotelsaal auf oder bei einem Empfang im Freien. Immer gibt es ein riesiges Geschrei, und immer fragt man sich, wie sich der Mann fühlt, der vor ein paar Wochen noch ein kleiner Immobilienhändler war. Die Zeit als Sicherheitsmann wird in den offiziellen Biografien nicht erwähnt, als ob sich das nicht gehört. Weil Barrow gerade seinen 52. Geburtstag gefeiert hat und fast auf den Tag genauso alt ist wie die Unabhängigkeit, spielt bei seinen Auftritten meist eine Kapelle „For he’s a jolly good fellow“. Und so schaut er dann auch drein, sieht aus wie einer zum Knuffen. Seine First Lady ist meist an seiner Seite, die zweite Ehefrau ist wohl zu Hause mit den drei Kindern.
Welch enorme Erwartungen die Menschen haben, konnte man bei seiner Amtseinführung sehen. Zehn Stunden warteten sie auf ihn in sengender Hitze, es wollten so viele Menschen ins Stadion, dass Gitter und Sicherheitsbeamte einfach überrannt wurden. Dann aber gibt es erst einmal eine endlose Prozedur mit Militärparaden, Kanonenschüssen und dem Einmarsch der höchsten Richter samt Dudelsackkapelle. Schließlich stellt Barrow in 15 Minuten sein Regierungsprogramm vor: bessere Bildung, bessere Straßen, bessere Jobaussichten, stabile Stromversorgung, Ende der Korruption. „One nation. One people“, sagt er zum Schluss. Frenetischer Jubel, und: „He’s a jolly good fellow“.
Inzwischen fragen sich die Ersten aber auch, ob das Tempo der neuen Regierung nicht beschleunigt werden könnte. Die Menschen werden ungeduldig, es spazieren immer noch die Schergen des alten Regimes durch die Straßen.
Amadou Janneh kennt die einstigen Peiniger. Als er vor einigen Tagen das Gefängnis Mile 2 besuchte, hat er die Wachen wiedergesehen. Er hat in die Augen derer geblickt, die die Häftlinge zur Hinrichtung abgeholt haben. „Sie waren alle noch da“, sagt er, „aber sie waren verunsichert, sie wussten nicht, was mit ihnen unter der neuen Regierung passiert.“ Manche in Gambia wundern sich, dass nicht Amadou Janneh, 54, Präsident geworden ist, schließlich hat er seit Jahrzehnten für die Freiheit gekämpft. Ende der Achtzigerjahre ging er in die USA, studierte und lehrte Politikwissenschaft. Nach zwanzig Jahren kehrte er zurück, als der alte Diktator so tat, als fände er Demokratie doch gut. Die Pressefreiheit wurde in die Verfassung aufgenommen und Janneh Informationsminister.
Aber der Frühling in Gambia dauerte nicht lange. Janneh wurde wegen Spionage und zu viel Opposition zu lebenslanger Haft verurteilt, verbrachte sieben Monate in Einzelhaft, zehn Minuten Licht am Tag. Die Amerikaner und Amnesty International ließen nicht locker, nach zwei Jahren kam der Bürgerrechtler Jesse Jackson nach Gambia und nahm ihn mit in die USA. Seit einigen Wochen ist Janneh zurück, er sitzt in seinem Haus, das er damals verlassen musste. Warum er nicht in der neuen Regierung ist? „Ich kontrolliere sie lieber von außen.“ Es soll eine friedliche und geordnete Machtübergabe werden, keine Hexenjagd, so hat es der neue Präsident beschlossen. Das gelingt nicht ganz. Bei seinen öffentlichen Auftritten werden diejenigen ausgebuht, die bis vor Kurzem die Befehle des Diktators nicht eifrig genug umsetzen konnten. „Das Volk vergisst nicht. Es wird der Regierung etwas Zeit lassen. Aber wenn es keine Gerechtigkeit gibt, wird es Ärger geben“, sagt Janneh.
Er scheint sich wohl zu fühlen in der Rolle des Mahners, als Korrektiv der neuen Regierung, die ohne ihn vielleicht gar nicht im Amt wäre. Amadou Janneh ist so etwas wie der Königsmacher in Gambia. Er hat in den vergangenen Jahren die Unterstützung von vielen Nicht-Regierungsorganisationen gesichert, hat mit deren Hilfe die Opposition Gambias durch die Welt geflogen. Nur an einen Tisch hat er die acht Gruppen nicht gebracht – bis einen Monat vor der Wahl. „Wir haben ihnen gedroht, alles zu tun, damit keine internationalen Wahlbeobachter hierherkommen und die Wahl nicht anerkannt wird“, sagt Janneh.
Vor diesem Gesichtsverlust hatten selbst die zerstrittenen Oppositionspolitiker Angst. Sie schlossen sich zusammen und riefen Barrow zum Kandidaten aus, den Schatzmeister der United Democratic Party. „Ich hatte noch nie von ihm gehört“, sagt Janneh und lacht. Was er von Barrow hält? „Er ist ruhig und überlegt. So etwas braucht man in solchen Übergangssituationen. Er ist kein Hitzkopf, der eine Hexenjagd mit dem alten Regime veranstaltet. Aber wir hoffen natürlich, dass er nicht zu unentschlossen ist.“ Ein paar Tage später wird der Geheimdienstchef verhaftet.
Amadou Janneh sitzt in einem leeren Büro, in dem früher 20 Leute für seine IT-Firma gearbeitet haben. Nun ist es der leere Rahmen eines Lebens, das wieder gefüllt werden muss. Er kennt Dutzende Rückkehrer, denen es genauso geht. In den Zeitungen hat die Regierung Anzeigen geschaltet, Menschen, die in den vergangenen Jahren enteignet wurden, sollen sich melden, zurückkommen und beim Wiederaufbau helfen. Die EU hat für die kommenden Jahre 225 Millionen Euro für neue Jobs zugesagt. Gleichzeitig werden viele alte zerstört. Gunjur ist ein Ort mit etwa 30 000 Einwohnern, von denen viele Fischer sind. Oder waren. Bei gutem Wetter und klarer Sicht würde man sie sehen, die Fangflotten aus dem Ausland, sagt Ebrima Tabang. Ob die Schiffe da draußen eine Lizenz haben, weiß er nicht. Er ist der Verantwortliche der Regierung für diesen Küstenabschnitt, er soll die Fischerei überwachen. Es gibt aber wenig zu überwachen, wenn die großen Fischfabriken aus Spanien und Japan weit draußen das Meer leer räumen. „Wenn mal jemand von uns rausfährt, bekommt der einfach 100 Dollar in die Hand von den Kapitänen, wenn sie überhaupt anhalten. Das ist ein Drittel eines Jahresgehaltes. Was würden Sie machen?“
Draußen ziehen große Fangflotten vorbei. Ob sie eine Lizenz haben, weiß der Strandwächter nicht
Es gibt in Europa viele Politiker, die fragen, warum es Afrika eigentlich nicht schafft, nach so vielen Jahren, nach so vielen Milliarden. In Afrika fragen sich umgekehrt viele, warum es Europa eigentlich nicht schafft, das abzustellen, was die Menschen zur Flucht treibt. Ebrima Tabang zeigt die Kühlhäuser, in denen die besten Fische liegen, Barrakuda und Red Snapper. Nur werden es immer weniger. Und als ob das nicht reichen würde, haben Chinesen auch noch eine Fabrik hingestellt, in der sie Fischöl produzieren. Hin und wieder gehen die Chinesen beim Imam des Dorfes vorbei und bringen ihm Lämmer und Gaben. Fragt man den Imam danach, was die Chinesen hier machen, sagt er: „Ich war schon lange nicht mehr am Strand, ich bin schon über 90 Jahre alt.“
Am Strand liegen die Holzkähne der einheimischen Fischer oft den ganzen Tag im Sand, weil es nicht mehr viel zu fischen gibt. Junge Männer liegen in kleinen Hütten, überall Müll. Es riecht nach Marihuana. Ein alter Mann schnorrt die an, bei denen nichts zu holen ist: „Gib mir was, dann bete ich in der Moschee dafür, dass du es nach Europa schaffst.“
Europa ist allgegenwärtig in Gunjur, in jedem Gespräch. Man läuft an den Häusern derer vorbei, die es dorthin geschafft haben. Manche sind noch im Ausland und schicken Geld für den Bau, manche sind zurück und bauen sich ein „Compound“: Hof, Haus, gerne griechische Säulen und außen herum eine hohe Mauer. Es sind Denkmäler des Erfolgs.
Und die anderen legen weiter das Geld zusammen, damit zumindest einer aus der Familie losziehen kann. Der Imam gibt den Segen und etwas Zauberkraft dazu. „Wir hatten bisher keine Hoffnung, dass etwas anders wird“, sagt der alte Mann, „aber jetzt haben wir ja den neuen Präsidenten.“