Beitrag vom 05.02.2016
FAZ
Wie Unterentwicklung zementiert wird
Von Kurt Gerhardt
Dass Handel den Entwicklungsländern mehr nütze als Hilfe, ist herrschende Meinung. Andererseits wird die Praxis des Handels vor allem mit Afrika seit Jahren heftig kritisiert. Zum Beispiel mit Hinweis auf europäische Hähnchen-, Tomaten- und Milchpulverexporte heißt es, afrikanische Bauern könnten mit den niedrigen Preisen der importierten Ware nicht mithalten und würden „in den Ruin getrieben“ (Greenpeace), „Exporte schaffen Hunger“ (Misereor), „ungerechte Welthandelsregeln“ (Oxfam). Entwicklungsminister Müller schließt sich den Klagen an und fordert „Fairhandel statt Freihandel“.
Diese Anschuldigungen sind geprägt von einer Einstellung, die sich am Beispiel der Geflügelfleischexporte gut aufzeigen lässt: Bestimmte Körperteile durchaus guter Qualität (Flügel, Rückenteile), für die es in Deutschland nur geringe Nachfrage gibt, werden auf dem Weltmarkt angeboten. Händler unter anderen aus Ghana, Benin und Gabun kaufen sie gern. Auf den Märkten dieser Länder entscheiden sich viele Kunden für die ausländische Ware. Einheimische Bauern haben also das Nachsehen. Der systemische Hintergrund ist, dass eine hochproduktive deutsche auf eine unproduktive afrikanische Agrarwirtschaft trifft. Die Regierungen dieser Länder könnten die Einfuhr von Geflügelfleisch - WTO-konform - verbieten, wie Elfenbeinküste, Kamerun und Nigeria es getan haben. Ein Grund, warum andere es nicht tun, könnte sein, dass ihnen die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit preiswertem Importfleisch wichtiger ist als das Los der Bauern. Vielleicht lassen sie sich aber auch von dem richtigen Gedanken leiten, dass ein Importverbot die eigene unproduktive Wirtschaft schützt und damit der Entwicklung des Landes schadet.
In einer merkwürdigen Neigung zur Selbstbezichtigung und in Verkehrung der Zuständigkeiten klagen weite Kreise der deutschen Dritte-Welt-Szene nicht etwa afrikanische Regierungen an, weil sie ihre Bauern nicht schützten, sondern europäische Exporteure, die afrikanischen Verbrauchern die Möglichkeit geben, zwischen verschiedenen Angeboten zu wählen. Dieser angebliche Skandal wird mit dem Hinweis ergänzt, die schädigenden Exporte würden von der EU auch noch mit Ausfuhrerstattungen subventioniert. Auf der Website des BMZ heißt es bis heute, die Industrieländer müssten ihre Agrarexportsubventionen abbauen. Dabei gibt es sie in Richtung Subsahara-Afrika de facto schon lange nicht mehr. Als die EU sie auch rechtlich 2013 abschaffte, war dies der Presseabteilung des BMZ keine Meldung wert. Auch von der „Szene“ wurde das kaum zur Kenntnis genommen.
Die Neigung, die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Afrika verzerrt darzustellen, betrifft auch die Ausfuhr von Afrika nach Europa. Dass die EU durch Vorschriften die Afrikaner daran hindere, Waren nach Europa zu exportieren, ist in weiten Kreisen der „Szene“ festgefügte Meinung. So dürfte auch Minister Müller zu verstehen sein, wenn er „Fairhandel“ fordert. Auf die Frage, wo denn der Minister einen Mangel an Fairness sehe, konnte sein Haus keine plausible Antwort geben.
Das ist verständlich, denn solche Mängel gibt es nicht. Vielmehr können zum Beispiel die meisten afrikanischen Staaten, weil sie zu den Least Developed Countries gehören, alles zoll- und kontingentfrei in die EU exportieren - außer Waffen. Und die Welthandelsorganisation (WTO) hat nicht etwa deswegen die EU gedrängt, ihre Handelsbeziehungen zu vielen Entwicklungsländern neu zu verhandeln, weil diese unter Handelsbehinderungen zu leiden hätten, sondern weil die EU ihnen zu viele Privilegien gewähre!
Man könnte die Falschmeldungen von Medien, Politik und Hilfsorganisationen als wohlmeinende Verirrungen abbuchen, wenn sie nicht afrikanischer Entwicklung schadeten. Die notorisch falsche Zuweisung von Zuständigkeiten führt dazu, dass afrikanische Politiker sich entlastet fühlen und ihre entwicklungsfeindliche Politik weiterbetreiben können. Die wahren Gründe afrikanischer Rückständigkeit werden so verschleiert. Dass Rohstoffe wie Kakao oder Baumwolle nicht auf dem Kontinent verarbeitet werden, hat afrikanische Gründe und keine europäischen. Schwarzafrika hat auf dem Weltmarkt fast nichts aus eigener Verarbeitung anzubieten, keinen Kugelschreiber, keinen Tauchsieder und keine Luftpumpe.
Die angesichts dessen exkulpierende Haltung zementiert Unterentwicklung. Dies wiederum nützt unserer Entwicklungshilfe-Industrie, die damit rechnen kann, auf diese Weise endlos im Geschäft zu bleiben.
Der Autor ist Journalist in Köln und war in der Entwicklungshilfe in Afrika tätig.