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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 11.07.2015

Neue Zürcher Zeitung

Die Brandspur der Jihadisten

Der nigerianische Autor Wole Soyinka verbindet seinen Bericht über die bedrohten Bildungsinstitutionen in seiner Heimat mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zur Verteidigung menschlicher Grundwerte.

von Wole Soyinka

Ich wurde nach Lindau eingeladen, um über Bildung in Afrika zu sprechen, und deshalb möchte ich Sie als Erstes zu einigen Bildungsstätten führen. Fangen wir mit der exotischsten an – folgen Sie mir bitte in die Wälder nahe meiner Heimatstadt Abeokuta. Wir entdecken die Fährte eines Tiers, die uns überraschenderweise zum Rudiment einer menschlichen Behausung führt. Das Dach ist über den windschiefen, innen wie aussen völlig überwucherten Wänden eingebrochen, aber irgendwo findet sich ein Durchschlupf, und – wer hätte das gedacht – wir stehen auf einem zementierten, wenn auch arg mitgenommenen Boden, um uns grob gefertigte Stühle, Bänke, Pulte und eine Wandtafel. An die Wand sind ein paar Zeitungsausschnitte gepinnt, im Pult findet sich noch ein Klassenbuch.

Keine Frage, das war einst ein Klassenzimmer. Einst? Ein Blick auf die Zeitungsausschnitte macht klar, dass hier vor knapp drei Wochen noch unterrichtet wurde. Natürlich. Es sind Ferien, die Regenzeit ist angebrochen, und wo das himmlische Nass seinen Weg auch durch löchrige Dächer, Fenster und Türen findet, wächst das Unkraut schnell.

Vom Urwald nach Eton

Gewiss, das ist ein extremes Beispiel, aber für seine Wahrhaftigkeit stehe ich als Augenzeuge ein. Ich bin gern im Wald unterwegs und stosse dabei immer wieder auf solche verlassene Schulräume. Und in vielen Regionen Afrikas nimmt ihre Zahl zu – besonders natürlich in Kriegsgebieten, aber auch in solchen, die sich nicht in einem offenen Konflikt befinden, sondern vielmehr doktrinären Ideologien unterworfen sind.

Wenden wir uns lieber einem menschenwürdigeren Szenario zu, das ebenfalls gut vertreten ist – Schulen, deren Angebot durchaus über der erwartbaren Norm liegt. Ich meine Schulen mit Bibliotheken und Laboratorien, wo die Schüler experimentieren und erfinden können. Ich meine Schulen wie diejenige im westnigerianischen Staat Osun, die einen für schulische Bedürfnisse massgeschneiderten Laptop entwickelt hat, der im ganzen Staat verbilligt abgegeben wird. Das Gerät ist mit Daten aus dem nationalen und lokalen Curriculum geladen, liefert aber auch zusätzliche Informationen mit klarem Schwerpunkt auf afrikanischen Themen. So erdet das Gerät die Schülerinnen und Schüler in ihrer eigenen Kultur und öffnet ihnen gleichzeitig den Horizont der neuesten wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen.

Und weiter zu unserem dritten Schauplatz. Ein grösserer Kontrast zum ersten liesse sich kaum denken – hier haben wir es mit einer Art Transplantat der Eliteschule Eton, mit einem Exempel grotesker Entfremdungs-Psychologie zu tun. Auf afrikanischem Boden ist dies eine exotische Welt: Krawatten, wollene Blazer unter tropischer Sonne, eine Mini-Uno von Lehrkräften aus England, Indien, Frankreich, Deutschland usw. Ein Cricket-Feld mitsamt einem makellosen Pavillon für die elektronische Anzeigetafel. Rasen wie vom Friseur geschnitten. Ein grosszügiger Swimmingpool. Und was erspähen wir da in der Ferne? Tatsächlich: Reitpferde. Auch das gibt es – und zwar ebenfalls in Abeokuta. Diese Eliteschulen sind natürlich privat, und es ist ein offenes Geheimnis, dass manche von ihnen sich in der Hand ebenjener einstigen Staatsoberhäupter befinden, die den anhand des ersten Beispiels illustrierten Niedergang des nigerianischen Schulwesens mitzuverantworten haben.

Es gibt noch ein weiteres Schulmodell – eines, das in der deplorablen Entwicklung des Schulwesens mancherorts ebenfalls eine Rolle gespielt und insbesondere die eingangs geschilderten Zerfallserscheinungen befördert hat. Es ist dies die Medresse – ursprünglich eine islamische Variante der Primarschule, die weitgehend auf das Auswendiglernen setzt. Die Schüler lernen den Koran aus dem Kopf zu rezitieren, sie studieren das Leben und die Tugenden ihres Propheten Mohammed und seine in den Hadithen festgehaltenen Aussprüche und Lehren; sie lernen, was laut diesen Lehren erlaubt und was verboten ist und worin die jedem guten Muslim auferlegten Pflichten bestehen.

Früh lernen die Schüler auch, dass dem Lehrer absoluter Gehorsam geschuldet ist; dafür fühlen sie sich geborgen und beschützt. Es besteht eine enge, für Aussenstehende nicht ohne weiteres verständliche Beziehung zwischen Schüler und Lehrer; in einem Alter, da das Kind noch gänzlich formbar ist, bilden die Lehren des Mullah seine eine, existenzielle Wirklichkeit. Ich bin in der Nachbarschaft einer solchen Schule aufgewachsen und erinnere mich, dass mich Neid beschlich, wenn ich die Kinder im Chor antworten und rezitieren hörte: Es lag etwas Einschläferndes, fast Hypnotisches in den Stimmen, die durch die träge Nachmittagshitze herübertönten, und manchmal stimmte ich in den Chor ein, ohne zu wissen, was die Worte und Phrasen überhaupt bedeuteten.

Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass diese Medressen nicht mit Koranschulen gleichzusetzen sind. Ich ging auf eine christliche Missionsschule, die auch von muslimischen Schülern besucht wurde; diese hatten zwar am Abend oder am Wochenende zusätzlichen Unterricht in der Koranschule, wo sie in religiösen Dingen unterwiesen wurden, aber sie durchliefen ein normales schulisches Curriculum. Die Schüler der Medressen hingegen verlassen diese Institution – ob das nun beabsichtigt ist oder nicht – in einer Art geistiger Versklavung. Sie haben nur eine äusserst limitierte Vorstellung davon, was Lernen, was Bildung bedeutet. Sogar Erziehungsministerien in muslimischen Ländern haben mittlerweile erkannt, dass ein Gutteil der Fusssoldaten und der Bannerträger des radikalen Islamismus aus diesem Milieu stammt.

Der Ruf zur schwarzen Flagge

Das kompromisslose Pflichtgefühl gegenüber dem eigenen Glauben, das diesen Jugendlichen eingeimpft wurde, räumt jeden Zweifel, jede Zurückhaltung, jedes Zugeständnis ans Lebensrecht Andersgläubiger aus. Es gibt nur einen Weg – der Rest ist haram. Der wahre Glaube muss verbreitet werden, mit allen Mitteln, und koste es, was es wolle: Das ist göttliches Gebot. Kein Wunder, dass die Welt mit Staunen auf das scheinbare Paradox blickt, dass die derzeit wohl primitivste Ausdrucksform von Spiritualität sich äusserst geschickt modernster Technologien zu bedienen weiss: Das Internet ist zur virtuellen Medresse des 21. Jahrhunderts geworden. Und allenthalben fragen sich die Soziologen, warum so viele junge Menschen, die im liberalen geistigen Klima moderner Gesellschaften aufgewachsen sind, sich unter der schwarzen Flagge der Jihadisten scharen. Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Internet – Ironie des Fortschritts – auch Vehikel der Regression sein kann.

Nicht nur bei uns in Nigeria, sondern weltweit flösst der Name «Boko Haram» mittlerweile Entsetzen und Angst ein. Der Name sagt eigentlich alles, denn bekanntermassen ist er eine korrumpierte Variante von «The book is haram»: Bücher sind verboten, natürlich mit Ausnahme des einen – des Korans. Und Bücher stehen hier für alles andere: für Wissen, Kultur und Kulturerbe, gesellschaftliche Lebens- und Umgangsformen, Wissenschaft und Technologie, die Künste – kurz, für so ziemlich jede geistige Tätigkeit, die jenseits der Beschäftigung mit einem korrumpierten Religionsverständnis liegt. Als Boko Haram ihre Geissel über Nordnigeria erhob, waren Schulen die ersten Ziele. Schliesst die Schulen, hiess es; Eltern, behaltet euren Nachwuchs zu Hause, schickt die Kinder nicht zum Unterricht. Lehrer, hängt euren Beruf an den Nagel. Boko Haram attackierte Hochschulen und Lehrkräfte; auch landwirtschaftliche Fachschulen waren betroffen, obwohl man hätte annehmen dürfen, dass wenigstens diese verschont würden, da sie doch im Dienst eines universalen Grundbedürfnisses stehen. So wurden im Herbst 2013 vierundvierzig Studenten und Lehrer des College of Agriculture in Gujba bei einem nächtlichen Überfall der Jihadisten massakriert.

Allerdings schienen Hochschulen in den Augen von Boko Haram nicht die eigentliche Brutstätte der Sünde zu sein; vorab waren vielmehr Primarschulen von den Übergriffen betroffen. Die Täter kamen zu nächtlicher Stunde, wenn die Schulgebäude leer standen, und setzten sie in Brand: Das waren, vor fünf, sechs Jahren, die ersten, damals noch vereinzelten Warnsignale. Als die Bewegung breiter und damit kühner wurde, machte sie das Lernverbot zum Programm und begann, grausigere Exempel zu setzen. Ihre Anhänger lauerten Lehrern und Schülern auf, fesselten sie und schnitten ihnen die Kehle durch – Ähnliches hört man auch von den Shabab-Milizen in Somalia.

Unnötig zu sagen, dass zudem Kirchen und andere nichtislamische Glaubensstätten im Visier der Fanatiker standen; mit der Zeit wurden sogar Moscheen attackiert, denn auch im Islam gibt es konkurrierende Mächte, Glaubensformen und Praktiken. Aber der eigentliche Dorn im Auge der Fundamentalisten schienen die Bildungsinstitutionen zu sein. Denn Bildung hinterfragt die Macht, welche die mystische Aura der Religion verleiht. Bildung ist ein Arsenal, dessen Inhalt die Offenbarungen des heiligen Texts in die Luft jagen könnte.

Aber Bücher, Laboratorien und Schulen sind nicht unzerstörbar. Und als es keine Schulen mehr abzufackeln gab, als die Lehrer geflüchtet oder in der Gesellschaft untergetaucht waren, als für sie und ihre Schüler das schiere Überleben zum einzig erstrebenswerten Lerninhalt geworden war – da begann das allgemeine Abschlachten, denn Menschen sind ja nicht nur Erzeuger und Nutzer, sondern auch Vektoren des Buchwissens. Die Logik ist unbarmherzig: Auch der Bauer, die Marktfrau, der Arbeiter – jedes menschliche Wesen, das sich nicht der rechten Lehre beugt, ist kontaminiert und darf, ja muss durch Feuer und Blut gereinigt werden.

Ich habe das schulische Milieu geschildert, das zu solchen mentalen Deformationen führt. Viele Jihadisten sind vom Geist der Medresse geprägt, der, wie angedeutet, nicht nur in den gleichnamigen Institutionen, sondern auch übers Internet Verbreitung findet. Manche von ihnen sind Immigranten der ersten oder zweiten Generation, die in Gesellschaften leben, deren Werte sie ablehnen und die in ihren Augen moralisch lax, dekadent, sogar blasphemisch sind. Sie wähnen ihre Seele in Gefahr und entfremden sich zunehmend der Gesellschaft des Gastlandes; werden sie hinlänglich indoktriniert, sind sie bereit, diese Gesellschaft in Stücke zu reissen. Das ist längst bekannt – aber ich möchte behaupten, dass hierzulande diesem Prozess unwillentlich noch Vorschub leistet wird.

Die Macht der Namen

Fragen wir noch einmal: Was sagt uns der Name Boko Haram?

Es ist, zunächst, nicht der Name, den unsere religiösen Fanatiker gewählt haben: Sie selbst nennen sich grossspurig «Jama'atu Ahli as-Sunna li ad-da'awati wal jihad», zu Deutsch etwa: Gefolgsleute der Lehren des Propheten und des Jihad. Auch wenn die Nigerianer auf die jähe und brutale Attacke dieser Gruppierung weder vorbereitet noch dafür gerüstet waren, griffen sie instinktiv nach der psychologischen Waffe der Verweigerung – man verweigert dem Gegner das, wonach er am dringendsten verlangt. So verweigerte man den Jihadisten sogar eine Kurzform des Namens, den sie sich selbst verliehen hatten: Niemand hat sie je als «Gefolgsleute des Propheten» oder «Gotteskrieger» bezeichnet. Nein, «Boko Haram» ist der Name, und er bedeutet: Philister und Ikonoklasten. «Boko Haram»: Mehr bringt ihr nicht zustande. Sprache kann auch eine Kriegswaffe sein.

Diese Lehre könnten die Menschen im heimgesuchten Nigeria dem Rest der Welt mitgeben: Macht keine Konzessionen an den Feind, jedenfalls nicht auf dem Terrain der Sprache, das allen gehört! Und sie liesse sich, beispielsweise, auf den Umgang mit dem IS übertragen. Denn der Islamische Staat ist kein Staat – und er ist nicht islamisch. Oder macht etwa die Tatsache, dass ein paar Psychopathen sich auf einem Stück Grund und Boden breitmachen, diesen Boden bereits zum Staat?

Angesichts dieser Feststellungen muss es erstaunen, dass führende Zeitungen wie die «New York Times» oder «Le Monde» in ihrer Berichterstattung den Begriff «Islamischer Staat» und damit die Selbstglorifizierung brutalisierter Spinner fraglos übernehmen. Denn die scheinbar unbedeutende Konzession hat durchaus psychologische Implikationen. Die Jugend, wir wissen es, ist die Zeit der Rebellion, die Zeit, da das Individuum fast instinktiv den Status quo ablehnt. Die Ironie dieses Reflexes besteht darin, dass er lediglich das Vorspiel zu einer neuen Bindung darstellt; denn erst die Bindung an etwas anderes schafft die Grundlage, von der aus man das Bestehende verwerfen kann. Sie ermächtigt den Aussteiger, dieses Andere als bedeutsamer und wertvoller darzustellen – als eine Alternative, welche die geltenden Normen insgesamt infrage stellt und disqualifiziert.

Der Traum von Utopia

Diese Funktion können alle Glaubensbekenntnisse, alle Ideologien erfüllen. Auch der Marxismus war zu seiner Zeit ein Glaube, der es dem unruhigen Geist der Jugend erlaubte, das Bestehende in Bausch und Bogen und ohne kritische Differenzierung von sich zu weisen. Man glaubte, das kapitalistisch-liberale Gesellschaftssystem als eigentlichen Abgrund der Dekadenz, der intellektuellen Disziplinlosigkeit und der Verdammnis zu erkennen, und sonnte sich stattdessen in der utopischen Vision einer klassenlosen Gesellschaft. Sogar hoch gebildete, scharfsinnige Köpfe gerieten in den Bann dieser Utopie und glaubten sich berufen, das Paradies auf Erden zu schaffen; manche zimmerten sich tatsächlich entsprechende Nischen zurecht, von denen aus sie mitleidig und überheblich auf den «unerleuchteten» Rest der Welt und deren unselige Bewohner herunterblickten. Und es gab auch einige, die sich mit Leib und Seele dem Dienst an ihrer Vision verschrieben und gewalttätige Missionen unternahmen – im Glauben, dass nur die Zerstörung des Gegenwärtigen den schimmernden Horizont der Zukunft freimachen könne.

Die zuvor verwendeten Begriffe – «Paradies», «Mission» – sind nicht zufällig gewählt. Die emotionale Leidenschaft des «fundamentalistischen» Marxismus war dem, was uns heute in Gestalt einer morbiden religiösen Ideologie gegenübersteht, durchaus vergleichbar, lediglich die Denkformen waren anders. Beide Richtungen aber kennen einen Ausdruck sehr wohl: Ermächtigung – das Überlegenheitsgefühl, welches damit einhergeht, dass man zu den Erwählten gehört. So wurde seinerzeit sogar das Ziel der klassenlosen Gesellschaft zum Königsweg, den nur die Elite der «cognoscenti» beschritt.

Wenn sich der rebellische Geist der Jugend mit der geistigen Prägung der Medresse verbindet, sind zerstörerische Energien leicht zu mobilisieren. Der Traum von Utopia rechtfertigt alle Greuel – oder zumindest lassen diese sich im Namen vermeintlicher «Notwendigkeit» plausibel machen. Wenn man nun einer Enklave des Terrors den Namen «Staat» zugesteht, einzig weil sie sich selbst mit diesem schmückt, dann ist das letztlich ein Einknicken vor dem Gegner. Denn in diesem «Staat» finden rastlose, unzufriedene Jugendliche ein real existierendes Ziel, das sie ansteuern, ein alternatives Bürgerrecht, das sie einfordern können; sie können ihre Vergangenheit und Gegenwart wegwerfen wie einen dreckigen Lumpen, um stattdessen die Standarte des Kriegers zu ergreifen. Sie sind Bürger einer neuen «Weltordnung», die alles andere als eine solche ist: eines Staates, in dem das Ausleben der niedrigsten Instinkte ein Bürgerrecht ist, welches den Kämpfern Allahs zusteht.

Stellen Sie sich vor, dass einer dieser frustrierten, nach Ermächtigung hungernden Jugendlichen auf allen Medienkanälen hört, dass der sogenannte «Islamische Staat» wieder einmal einen Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ermordet – Verzeihung: «exekutiert» – hat. Er wird mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass sein Staat das jedem Staat zustehende Recht ausgeübt hat, einen Feind zu exekutieren. Der nüchterne Blick, der einfach konstatiert, dass ein paar Geistesgestörte gerade einen unschuldigen Menschen abgeschlachtet haben, ist ausgeblendet; in den Augen des Jugendlichen hat seine Nation sich auf legitime Art eines Verräters, eines Infiltranten, eines Schuldigen entledigt; sie hat im Angesicht der Welt ihr Recht auf Selbstschutz und ihre Souveränität manifestiert. Natürlich lässt sich die Wirkung solcher Gedankengänge nicht genau quantifizieren, aber ihr Risikopotenzial sollte nicht ausser Acht gelassen werden.

Die Anerkennung, die dem «Islamischen Staat» quasi gedankenlos gezollt wird, haben die Nigerianer den einheimischen Terroristen verweigert. Nein, ihr seid weder ein Staat noch ein Kalifat. Ihr seid Aufklärungsverweigerer, die es sich zur ersten Pflicht gemacht haben, alles zu zerstören, was mit Wissen und Kreativität zu tun hat, all das, wofür Bücher stehen. Boko Haram. Nennt euch, wie ihr wollt, eure nigerianischen Landsleute haben keinen andern Namen für euch als Boko Haram. Leider sind wir den Terror damit noch bei weitem nicht losgeworden, aber der Kampfgeist hat in der restlichen Bevölkerung Wurzeln geschlagen, und das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Bombardements mit Büchern

Ich verkünde nichts Neues, wenn ich festhalte, dass dieser Krieg mit Bombardements und Militäreinsätzen allein nicht zu gewinnen ist – auch nicht mit den präzisesten Lenkwaffen, denn für jeden Kopf, den man der Hydra abschlägt, wachsen zehn neue nach. Das erste Ziel, dem unsere Anstrengungen gelten müssen, ist das Denken der Menschen, und da sehe ich nicht, dass nach konstruktiven und phantasievollen Optionen gesucht würde. Da Bücher das primäre Hassobjekt der Jihadisten sind, schlage ich vor, dass man die von ihnen besetzten Regionen ausgiebig bombardiert – und zwar mit Büchern, einschliesslich des Korans in kommentierten und annotierten Ausgaben. Oder mit Bildern der gütigen, versöhnlichen Gottheiten und Leitgestalten, die dem blutrünstigen Gottesbild der Islamisten Paroli bieten könnten. Und es gibt hunderterlei andere Ansätze: Die Waffe des Lachens, den Pikser, der den aufgeblasenen Gotteskriegern die Luft rauslässt; Cartoons, die diesen morbiden, todessüchtigen Narzissten den Spiegel vorhalten. Zerpflücken wir doch die Photoshop-Posen, in denen sie sich präsentieren, bevor sie ausziehen, um den Begriff «Märtyrer» mit ihrem Tun zu besudeln! All das sind legitime Waffen, um den Feind zu demoralisieren und den Opfern ein Stück Macht zurückzugeben. Den Opfern, die – in Somalia, in Mali und im Nordosten Nigerias weiss man es sehr wohl – die wahren Märtyrer sind, diejenigen, die ihre Überzeugung und ihren Widerstandsgeist nicht preisgegeben haben.

Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet: Ist es genug, wenn unsere Jugend nicht mehr lernt als das nackte Überleben? Reicht das für unsere Kinder? Sollten wir Geistes- und Naturwissenschaften, Technologie und Künste schlicht aus unserem Repertoire streichen, die alten Bibliotheken von Timbuktu vergessen und Akademien eröffnen, die allein der Selbsterhaltung dienen? Sollen wir zulassen, dass wir zu Feinden Gottes erklärt werden, wenn wir unser Recht auf Bildung einfordern? Mir scheint, es ist Zeit, dass wir aufhören, den Vernichtungsfeldzug der Jihadisten gegen Bildung und Kultur lediglich mit Händeringen zu quittieren: Wir sollten ihn, kollektiv und mit aller Klarheit und Schärfe, zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklären.

Denn die Verteidigung der Menschlichkeit bedeutet mehr als den Schutz von Leib und Leben. Menschlichkeit verkörpert sich in den Buddhas von Bamian, welche die unter dem Namen Taliban operierenden Neo-Barbaren unter Freudengeheul in die Luft jagten. Menschlichkeit manifestierte sich in der antiken Stadt Nimrud, deren ehrwürdige Überreste von IS-Milizionären geschleift wurden. Sie birgt sich in den Manuskriptschätzen von Timbuktu, die in einer gewagten Aktion dem Zugriff der Islamisten entrissen wurden. Sie trägt die Züge der Bronzeskulpturen aus dem Königreich Benin und jene der klassischen Yoruba-Büsten. All diese Figuren, Bauten und Objekte säumen die Strasse, auf der die Menschheit voranschritt bis zur Erkundung ferner Galaxien, und es obliegt ihnen, auch über unsere Zukunft zu wachen. Ohne sie sind wir verstümmelt, unvollkommen. Und wir dürfen keine Ideologien dulden, die sich nur mithilfe eines verstümmelten, unvollkommenen Menschenbilds verwirklichen können.

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Wole Soyinka, Dramatiker, Romancier, Dichter und Essayist, wurde 1934 in Abeokuta geboren. Für seine Stellungnahmen gegen politische Missstände in Nigeria nahm er auch Gefängnishaft und Exil auf sich. 1986 wurde sein Schaffen mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt. Seine an der 65. Lindauer Nobelpreisträger-Tagung gehaltene Rede erscheint hier in leicht gekürzter Fassung. Aus dem Englischen von as.