Beitrag vom 21.06.2015
Berner Zeitung
Warum es für das Flüchtlingsproblem noch lange keine Lösung geben wird
Der Flüchtlingsstrom aus Afrika reisst nicht ab. Das zementiert unser Bild vom ewigen Krisenkontinent. Doch ist wirklich alles aussichtslos? Oder gibt es Lichtblicke am Horizont? Vier Aufforderungen, genauer hinzusehen.
von Peter Meier
220'000 Menschen versuchen es 2014. Sie klettern an den Küsten Afrikas in jeden Kahn, der auch nur halbwegs seetauglich ist - und machen sich auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer. Dieses Jahr könnten es 500'000 sein. Oder eine Million. Ist Afrika so kaputt, dass alle nur noch weg wollen? Raus aus dem hoffnungslosen Elend. Rein ins gelobte Europa. Auch wenn wir es gerne hätten: So simpel ist es nicht. Vier Aufforderungen, genauer hinzuschauen.
1. Afrika schweigt, weil jeder Flüchtling ein Problem weniger ist.
In Europa sucht die aufgeschreckte Politik händeringend nach einer Lösung: Die Flüchtlinge aus Afrika sollen nicht sterben - aber noch besser: gar nicht erst kommen. Und Afrika, was tut Afrika? Es schweigt. Kein Wort ist zu hören - weder von Staats- und Regierungschefs noch von der Afrikanischen Union, zu der ausser Marokko alle 54 Staaten des Kontinents gehören. Niemand schlägt Alarm, fordert Krisengespräche, verlangt Sofortmassnahmen.
«Die Regierungen übernehmen keinerlei Verantwortung für die derzeitige Situation», kritisiert Sebastian Elischer. Der Deutsche forscht am Hamburger Institute of Global and Aera Studies (Giga) seit Jahren zu den politischen Systemen Afrikas. Der Grund liegt für ihn auf der Hand: Autokraten und Diktatoren müssten auf Bürger keine Rücksicht nehmen. Und für demokratische Regierungen seien jene entscheidend, die zur Wahl erschienen, nicht wer das Land verlasse: «Vielen Regierungen ist es ganz recht, wenn Tausende Bürger verschwinden.»
Das sieht auch Elisio Macamo so. Der Soziologe aus Mosambik hat am Zentrum für Afrika-Studien der Uni Basel eine Professur inne. Aber er teilt die Empörung des europäischen Kollegen nicht. «Afrikaner sehen im Flüchtlingsstrom nach Europa kein eigenes Problem», erklärt er stattdessen. So wenig, wie Europa einst die Massenflucht nach Übersee zu seinem Problem gemacht, sondern letztlich davon profitiert habe. Selbst der Tod Tausender Landsleute im Mittelmeer ändere nichts an der afrikanischen Sicht. «Afrikaner sagen sich: Gestorben wären sie auch hier.» Schwarzer Realismus.
Der Tod gehört zum Alltag des Kontinents wie Flucht und Migration. Dutzende Millionen verlassen ihre Heimat. Allein in Subsahara-Afrika leben rund 20 Millionen Menschen ausserhalb ihres Heimatlandes. Solche Binnenwanderungen machen den Hauptteil der afrikanischen Migration aus. Dabei ist gemäss Studien die Auswanderung in arme Länder so verbreitet wie die Armutsmigration in reichere Länder - nach Europa kommt nur ein Bruchteil.
Auch die Flucht vor Gewalt und Konflikten in Krisenherden wie etwa Somalia, Eritrea, Sudan, Mali, der Zentralafrikanischen Republik oder Nigeria erfolgt primär in die Nachbarstaaten. So treiben etwa die Unruhen in Burundi derzeit Hunderttausende in die Nachbarländer Tansania, Ruanda und Kongo, wo laut UNHCR schon drei Millionen Flüchtlinge leben.
Die Folge: Viele afrikanische Staaten müssen vorab ihre eigenen Flüchtlingskatastrophen bewältigen. «Für eine Regierung, die ihrer Bevölkerung keine Perspektiven bieten kann», sagt Macamo darum, «ist es eine Lösung, wenn Menschen das Land verlassen.»
2. Die Entwicklungspolitik scheitert, weil das Geld versickert.
Natürlich ist es nicht nur eine Frage des Könnens. Unterdrückung, Korruption, Vetternwirtschaft und Kapitalflucht sind nach wie vor weit verbreitet. Afrika ist nicht arm. Das Geld ist nur extrem ungerecht verteilt. Eine kleine Machtelite kontrolliert staatliche Institutionen und Ressourcen, füllt seine Taschen auf Kosten der verarmten Bevölkerung, die von den Reichtümern ihrer Länder nie etwas sieht. Fast 60 Milliarden Dollar jährlich wurden so im letzten Jahrzehnt aus Afrika herausgeschafft.
Das ist mehr als alle Hilfsgelder, die auf den Kontinent fliessen. Die Weltbank beziffert diesen Raub von Volkseigentum auf 7 Prozent des afrikanischen BIP: Weltrekord. Meist ist das Elend dort am grössten, wo die Regierungsführung am schlechtesten ist. Da die Entwicklungspolitik des Nordens vom Glauben beseelt ist, dass mit mehr Geld mehr Elend zu beseitigen ist, fliesst in solche Länder zugleich ein Grossteil der Hilfsgelder. Das lindert zwar die schlimmste humanitäre Not. Doch dann zieht sich die Entwicklungshilfe meist zurück. Die Wurzel des Übels bleibt: Die korrupten und autokratischen Regimes halten sich an der Macht.
Auch in besser regierten Staaten gibts keine Gewähr: «Ich kenne kein afrikanisches Land, das Entwicklungshilfe in erster Linie dazu benutzt, ihrer Bevölkerung zu helfen», sagt Afrika-Experte Elischer. Dafür werde viel Geld in aufgeblähte, ineffiziente Staatsapparate gesteckt. Oder in Kriege investiert: 211 Milliarden Dollar haben den Kontinent Bürgerkriege und gewaltsame Konflikte allein zwischen 1990 und 2005 gekostet, wie eine Untersuchung des NGO Oxfam International ergab - das entspricht in etwa der Summe an öffentlichen Hilfsgeldern im gleichen Zeitraum. Geld, das fehlt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und in Infrastruktur und Technologien zu investieren. Um seinen Rückstand aufzuholen, müsste das unterhalb der Sahara liegende Schwarzafrika dafür laut Weltbank jährlich rund 90 Milliarden Dollar aufwerfen. Tatsächlich sind es derzeit nur rund 22 Milliarden - aber immerhin dreimal mehr als noch vor 10 Jahren.
Es ist nicht so, dass die westliche Entwicklungspolitik gar nichts bewirkt hätte: Die Gesundheitsversorgung hat sich verbessert, die Lebenserwartung ist etwas gestiegen, mehr Kinder gehen zur Schule. Aber wirklich auf die Beine gekommen ist der Kontinent dadurch nicht. Das Bevölkerungswachstum frisst vieles wieder weg. Das Millenniums-Entwicklungsziel der UNO, die Armut bis 2015 zu halbieren, wird in Afrika verfehlt. Nach wie vor ist Afrika in vielen Bereichen das Schlusslicht der Welt, noch weit hinter Südasien - von A wie Analphabetenquote bis Z wie Zugang zu Trinkwasser.
Fast 1300 Milliarden Dollar hat der Westen in den letzten 50 Jahren in Afrika verbrannt - aber die Auswanderungsgründe blieben fast überall bestehen. Da drängt sich der Eindruck auf, die Entwicklungshilfe diene ihm vorab als Ablasshandel für das eigene, vom Kolonialerbe belastete Gewissen. Seit Jahrzehnten, sagt denn auch Elischer, übten die Geber keinen ernsthaften Druck auf die afrikanischen Regierungen aus, damit diese Menschenrechts- und Wirtschaftslage verbesserten.
Die Kritik wächst auch in Afrika. Ökonomen wie etwa der Kenianer James Shikwati oder die Sambierin Dambisa Moyo prangern an: Die Entwicklungspolitik unter dem Diktat von Weltbank und IWF zementiere die Probleme des Kontinents, hemme dessen Entfaltung, ersticke die Eigeninitiative der Afrikaner, halte viele Staaten am Tropf und Wohlwollen des Westens. «Stoppt die Entwicklungshilfe», fordern sie darum.
So weit geht Elisio Macamo nicht. Aber der Mosambikaner sieht kardinale Denkfehler: «Erstens die Illusion, dass Entwicklung ein technisches Problem ist und planbar. Zweitens der Irrglaube, zu wissen, warum der Westen erfolgreich ist. Und drittens, dass dieses vermeintliche Rezept auch unter den ganz anderen Bedingungen in Afrika funktionierte.»
3. Afrika ist nicht mehr auf Europa angewiesen, weil es neue Freunde hat.
Die neuen Königswege für die Entwicklungsfinanzierung heissen Remittances und Direktinvestitionen. Die Geldüberweisungen aus dem Norden von Emigranten übersteigen in Staaten wie etwa Mali oder Senegal die Entwicklungshilfebeträge längst um ein Vielfaches. Der Vorteil: Das Geld kommt regelmässig und geht direkt von Haushalt zu Haushalt. Weder staatliche Stellen noch die Hilfsindustrie sind zwischengeschaltet, wo es versickern könnte. So profitieren laut aktuellen UNO-Berechnungen weltweit rund 150 Millionen Menschen von den 109 Milliarden Dollar, die allein Emigranten in Europa jährlich verschicken.
Die Forschung zeigt, dass diese lange unterschätzten Zahlungen nicht nur den Konsum fördern. Sie finanzieren auch den Aufbau von Brunnen, Schulen, Unternehmen. «Von daher wäre es sinnvoll», meint Macamo, «die Arbeitsmigration zumindest temporär zu legalisieren.» Migrationsexperten gehen noch weiter. So forderte etwa der UNO-Sondergesandte François Crépeau letzte Woche an einer Veranstaltung des World-Trade-Instituts der Uni Bern die Öffnung der europäischen Grenzen. Er steht damit nicht alleine. Für Migrationsströme spiele es keine Rolle, so das Argument, ob eine Grenze offen oder geschlossen sei. Die Erfahrung der EU-Abschottungspolitik bestätigt dieses Forschungsergebnis.
Afrikas schlummerndes Potenzial nutzen wollen auch immer mehr Investoren. Denn auch das ist Afrika: Dynamische Urbanisierung, boomende Städte wie Accra, Addis Abeba oder Lagos, Rohstoffrush und Wachstumsraten, von denen EU-Länder bloss träumen können. Der Kontinent wächst mit durchschnittlich 5 Prozent jährlich - angetrieben von den Lokomotiven Südafrika und Nigeria, aber auch etwa Äthiopien, Tansania und der Elfenbeinküste.
Wie verlässlich die Zahlen sind, weiss letztlich niemand. Der norwegische Ökonom Morten Jerven wies nach, dass sie oft nur auf groben Schätzungen basieren. «Wir können uns nicht sicher sein», räumte zuletzt auch Shanta Devarajan ein, der Chefökonom der Weltbank für Afrika. Fakt ist: 2014 zog es über 160'000 Wirtschaftsflüchtlinge aus dem siechenden Portugal ins boomende Angola, dessen einstige Kolonie.
Investoren glauben denn auch an Afrika als künftigen Weltwirtschaftsmotor. McKinsey preist das günstige Investitionsklima und sagt eine Kaufkraft des Kontinents von 1400 Milliarden Dollar innert 10 Jahren voraus. Die ausländischen Direktinvestitionen in Afrika haben sich in einer Dekade versiebenfacht auf rund 58 Milliarden Franken (2013) - Tendenz steigend. Die fleissigsten Geldgeber stammen aus Brasilien, Indien, Japan und allen voran China. Sie investieren in Bodenschätze, Landerwerb und Landwirtschaft, in die Baubranche, Dienstleistungs- und Produktionsunternehmen.
Neben Südafrika haben davon besonders etwa Ghana, Mosambik, Namibia profitiert. Kein Land kann und will so viel Geld in Afrika investieren wie China. Peking plant bis 2020 auch eine Verdoppelung des Handelsvolumens von heute 200 Milliarden Dollar - und wird damit die EU abhängen. Europäer und Amerikaner können kaum fassen, wie rasant China ihre einstigen Einflussgebiete erobert. Die Afrikaner wehren sich nicht gegen die Umarmung des Drachen. Die Chinesen behandeln sie nicht wie Almosenempfänger und halten sich aus der Politik raus: Menschenrechte? Gute Regierungsführung? Für China gibts Wichtigeres.
Europa dagegen stellt solche Bedingungen, auch wenn es sie kaum durchsetzt. «Europa hat die afrikanischen Regierung zu lange als Opfer der Kolonialzeit behandelt», sagt Giga-Experte Elischer. Für die wirtschaftliche und politische Führungselite zwischen Daressalam und Dakar ist deshalb klar, wie die Zukunft heisst: Chinafrika statt Eurafrika.
4. Wer dem Heimatstaat vertraut, verlässt ihn nicht so leicht.
Die grosse Frage ist, wie die afrikanischen Länder mit dem Turbowachstum umgehen. Ob es ihnen gelingt, nachhaltig zu haushalten, die breite Masse am Aufschwung teilhaben zu lassen, Minderheiten und Ethnien zu integrieren, Stabilität, Jobs und Perspektiven zu schaffen. Entscheidend dafür seien eine gute Regierungsführung und gute Institutionen, halten die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihren Buch «Warum Nationen scheitern» fest.
Natürlich könnten auch autokratisch regierte Länder Aufschwung und Stabilität generieren, so die Forscher. China ist das beste Beispiel dafür. Aber ein funktionierender demokratischer und pluralistischer Rechtsstaat erhöhe die Erfolgswahrscheinlichkeit markant. Damit ein Land seine Ressourcen voll ausschöpfen und dauerhaft zum Wohle aller nutzen könne, brauche es - inklusive Institutionen - etwa demokratische Wahlen, individuelle Freiheitsrechte, wirtschaftliche Aufstiegschancen.
Das ist nicht unbedingt der erste Gedanke, den man heute mit Afrika verbindet. Tatsächlich konnte etwa der prestigeträchtige Mo-Ibrahim-Preis für gute Regierungsführung seit 2007 mangels geeigneter Anwärter erst dreimal verliehen werden. Doch es gibt auch andere Beispiele. Botswana etwa gilt als prosperierender Musterknabe. Es ist neben Mauritius das einzige Land, das seit der Unabhängigkeit demokratisch ist. Ein zentraler Grund: Der Übergang in die Unabhängigkeit erfolgte geordnet - und Stammesstrukturen mit Organen zur Machtkontrolle potenzieller Herrscher haben die Kolonialzeit überlebt. Im Vergleich mit anderen Staaten, so Acemoglu und Robinson, habe dies den Übergang zur Demokratie stark begünstigt. Für Elisio Macamo ist der Schlüssel für die Entwicklung Afrikas eine Politik, die zuerst das Individuum schützt und ihm Raum zur Entfaltung gibt. Nur so könne Vertrauen und eine Identifikation mit dem Staat entstehen: «Wir müssen die Frage beantworten: Was heisst es, ein Bürger in Afrika zu sein?» Dafür brauche es eine Zivilgesellschaft und einen politischen Raum, in dem das Verständnis von Bürgerrechten, Gemeinwohl und Demokratie ausgehandelt werden könne.
Ansätze für eine solche Politisierung von unten sieht Macamo überall. Selbst wenn es Rückschläge gebe. Auch der gescheiterte Arabische Frühling bringe die Demokratisierung des Kontinents voran, ist er überzeugt: «Doch dieser Prozess braucht Zeit.» Die Ungeduld der Europäer hält er für überheblich. «Sie vergessen gerne, wie viele hundert Jahre es in Europa brauchte, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verankern - Afrika dagegen ist seit gerade einmal 50 Jahren unabhängig.»