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Beitrag vom 06.04.2014

FAZ

Nigeria überholt Südafrika als größte Volkswirtschaft

Das westafrikanische Land hat mit hohen Wachstumsraten in den vergangenen Jahren kräftig aufgeholt. Nigeria zum neuen Eldorado auf dem Kontinent auszurufen, wäre aber voreilig.

Von Thomas Scheen, Johannesburg

Wenn das nigerianische Amt für Statistik in den kommenden Wochen seine neuen Zahlen zur Stärke der eigenen Volkswirtschaft vorlegen wird, dürfte das weiter südlich, in Südafrika, für Verblüffung sorgen. Nigeria ist nämlich dabei, Südafrika den Rang der größten Volkswirtschaft auf dem Kontinent abzulaufen. Das nigerianische Bruttoinlandsprodukt beläuft sich demnach auf eine Summe zwischen 384 und 424 Milliarden Dollar, während Südafrika auf rund 350 Milliarden Dollar kommt. Um bis zu 60 Prozent soll das nigerianische Bruttoinlandsprodukt bislang unterschätzt worden sein, weil die Statistiker in Abuja mit Vorgaben arbeiteten, die zuletzt vor 16 Jahren aktualisiert worden waren - also zu einer Zeit, als Nigeria zwar schon Öl exportierte, aber Handys und Internet noch unbekannte Größen waren. Dabei steuert alleine der Telekommunikationssektor inzwischen knapp 9 Prozent zum nigerianischen Bruttoinlandsprodukt bei und ist damit der mit Abstand größte in Afrika.

Die Zahlen sprechen für sich: In Nigeria gibt es 122 Millionen Mobilfunknutzer, in Südafrika nur 40 Millionen. Nigeria zählte im Oktober 2013 56 Millionen Internetnutzer, Südafrika im gleichen Zeitraum 11 Millionen. Auch bei der inzwischen auf dem ganzen Kontinent boomenden Produktion von Zement konnte Nigeria die Konkurrenz vom Kap abhängen: Die Nigerianer produzieren 28 Millionen metrische Tonnen im Jahr, die Südafrikaner nur 18 Millionen. Ein Blick auf die demographischen Unterschiede relativiert diese Zahlen gleichwohl: Nigeria hat geschätzt 170 Millionen Einwohner, Südafrika mit 52 Millionen drei Mal weniger.

Dennoch macht Nigeria im Vergleich zu Südafrika zumindest auf dem Papier eine gute Figur. Nigeria verzeichnet seit 2006 ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 6 Prozent jährlich. Südafrika kommt für diesen Zeitraum auf lediglich 3 Prozent. Die nigerianische Landeswährung Naira hat sich nach einer Bankenreform von ihrer notorischen Schwindsucht erholt und zeigt sich relativ robust: Im vergangenen Jahr verlor der Naira im Vergleich zum Dollar lediglich 2 Prozent seines Wertes. Der südafrikanische Rand hingegen ging mit einem Verlust von 23 Prozent zum Greenback regelrecht in die Knie. Das gegenwärtige Handelsdefizit Südafrika liegt bei knapp 7 Prozent seines Bruttosozialproduktes. Nigeria hingegen verzeichnete 2013 einen Handelsüberschuss von 5 Prozent.

Nigeria hängt noch am Tropf der Ölindustrie

Den westafrikanischen Bevölkerungsgiganten deshalb zum neuen Eldorado auf dem Kontinent auszurufen wäre allerdings voreilig. Nigeria verfügt im Gegensatz zu Südafrika nicht über eine diversifizierte und moderne Industrie. Das Land hängt nach wie vor am Tropf der Ölindustrie. 80 Prozent der Staatseinnahmen und 95 Prozent der Deviseneinnahmen stammen aus diesem Sektor. Allein die Exporte von Flüssiggas (LNG) beliefen sich in 2012 auf knapp 20 Millionen metrische Tonnen, womit Nigeria der viertgrößte Produzent der Welt ist.

Hinzu kommt, dass die treibenden Industrien in Nigeria - Energie, Telekommunikation, IT und das Bankenwesen - nicht arbeitsintensiv sind und folglich nicht genug Arbeitsplätze schaffen, um die Heerscharen junger Menschen in Brot und Lohn zu bringen, womit soziale Unruhen geradezu programmiert sind. Von den 170 Millionen Menschen im Land sind mehr als die Hälfte jünger als 25 Jahre und zumeist ohne Ausbildung und deshalb ohne Job. Die Bereiche, die Arbeitsplätze schaffen könnten, zum Beispiel die traditionell arbeitsintensive Landwirtschaft, werden von der nigerianischen Regierung sträflich vernachlässigt. War die Landwirtschaft im Jahr 1990 noch für 40 Prozent des Bruttosozialproduktes verantwortlich, sind es inzwischen weniger als 30 Prozent. Nigeria muss Lebensmittel importieren, obwohl der Agrarsektor von seiner potentiellen Größe und Leistungsfähigkeit her einen Großteil Westafrikas mit Lebensmitteln versorgen könnte.

Inwiefern aber die im Zusammenhang mit der hohen Arbeitslosigkeit veröffentlichten Zahlen des statistischen Amtes in Abuja zutreffen, wonach 62 Prozent der Bevölkerung und damit mehr als 100 Millionen Menschen nach wie vor von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen, darf bezweifelt werden. Wenn das stimmt, woher kommen dann die 122 Millionen Mobilfunknutzer?

Nigeria bleibt ein schwieriges Pflaster für Investoren. Im Internationalen Korruptionsindex von Transparency International rangiert Nigeria auf Platz 144 von 177 gelisteten Ländern. Südafrika kommt auf Platz 72. Wie es trotz aller Lippenbekenntnisse bei der Bekämpfung der Korruption zugeht, zeigt das Beispiel von Sanusi Lamido Sanusi, dem als integer geltenden Chef der Zentralbank: Der hatte Anfang Februar das Fehlen von 50 Milliarden Dollar aus den Öleinnahmen angemahnt und die nationale Ölgesellschaft "Nigerian National Petroleum Company" (NNPC) der systematischen Unterschlagung beschuldigt. Kurz darauf wurde Sanusi seines Postens enthoben und sein Pass eingezogen.

Hinzu kommt, dass sich die nigerianische Armee im überwiegend muslimischen Norden des Landes einen regelrechten Krieg mit der radikalislamischen Sekte Boko Haram liefert, dem im Verlauf der beiden vergangenen Jahre mehr als 2000 Menschen zum Opfer fielen. Viele Regionen im Norden, insbesondere rund um die Millionenstadt Maiduguri, sind zu regelrechten No-Go-Areas mit Ausgangssperren geworden, in denen sich beim besten Willen nicht vernünftig wirtschaften lässt.

Zudem sieht es so aus, als ob die seit dem Ende der Militärdiktatur 1999 regierende "People's Democratic Party" (PDP) unter Präsident Goodluck Jonathan schwierigen Zeiten entgegensieht. Auch das hat mit dem fragilen Austarieren der ethnischen und religiösen Gegensätze in Nigeria zu tun, wo ein Wahlausgang noch niemals etwas mit dem Abstimmungsergebnis zu tun hatte. Im vorliegenden Fall entzündet sich der Streit innerhalb der Partei an der Absicht des Christen Jonathan, im kommenden Jahr für weitere vier Jahre zu kandidieren, was dem muslimischen Establishment nicht passt - womit die Frage nach einer Aufspaltung des Landes in einen christlichen Süden und einen muslimischen Norden abermals die politische Debatte zu bestimmen droht.

Insofern muss sich Südafrika vermutlich nicht allzu grämen, den Spitzenplatz unter den afrikanischen Volkswirtschaften verloren zu haben, wenngleich Nigeria sich mit Sicherheit nunmehr anschicken wird, den Südafrikanern die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) streitig zu machen. Das britische Investmenthaus Renaissance Group hat ausgerechnet, dass das nigerianische Bruttoinlandsprodukt unter idealen Voraussetzungen bis 2050 auf rund 6Billionen Dollar steigen kann, während die Bevölkerung von derzeit 170Millionen auf 400 Millionen Menschen anwachsen würde. Für Südafrika sieht die Prognose eine Steigerung des Bruttoinlandsproduktes auf 1,5Billionen Dollar bei einer Bevölkerung von 57 Millionen Menschen vor.

Was immer von solchen Schätzungen zu halten ist, die Rechnung ist trotzdem einfach: Umgerechnet auf das Pro-Kopf-Einkommen, stünde jeder Südafrikaner mit 27.000 Dollar theoretischem Jahreseinkommen wesentlich besser da als ein Nigerianer mit 15.000 Dollar. Von den staatlichen Sozialleistungen ganz zu schweigen: Die sind in Südafrika üblich, in Nigeria völlig unbekannt.