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Beitrag vom 11.05.2020

NZZ

Covid-19 hat Afrika bis jetzt weitgehend verschont

Viele Fachleute prophezeiten Afrika eine Katastrophe angesichts der Pandemie. Bis jetzt ist der Kontinent jedoch glimpflich davongekommen. Die Meinungen darüber, woran das liegt und ob es so bleibt, gehen auseinander.

David Signer, Dakar

Entgegen den alarmierenden Voraussagen der Experten blieb Afrika bis jetzt von der grossen Corona-Katastrophe verschont. Bisher gab es auf dem Kontinent 61?139 Fälle und 2230 Tote, während weltweit rund 4 Millionen Kranke zu verzeichnen waren, von denen mehr als 279?000 starben. Anders gesagt: Afrika repräsentiert 17 Prozent der Weltbevölkerung, aber nur 1,4 Prozent der Infizierten und nur 0,7 Prozent der Todesopfer waren Afrikaner. In Afrika gab es mehr als 21?000 Heilungen; auch das ist im weltweiten Vergleich bemerkenswert.

Verzögerung und Dunkelziffer

Die meisten Fachleute gingen davon aus, dass die Zahlen in Afrika explodieren würden. Man dachte dabei vor allem an die beengten Lebensbedingungen in Millionenstädten wie Lagos mit ihren riesigen Slums. Es wurde vorausgesagt, dass die fragile Gesundheitsversorgung schon bald zusammenbrechen würde unter dem Ansturm der Kranken.

Das ist bis jetzt nicht eingetroffen. Warum? Einige verweisen auf den Faktor der Verzögerung. Die ersten Fälle kamen durch Reisende nach Afrika. Relativ lange blieb Covid-19 eine Krankheit der Ausländer, der Rückkehrer, der kosmopolitischen Elite. Diese Leute waren aufgeklärt und liessen sich rasch testen und behandeln. Es dauerte eine Weile, bis sich die Pandemie auch unter den Ärmeren ausbreitete und sich «generalisierte». In Afrika ist die internationale Mobilität kleiner als auf anderen Kontinenten. Das verhinderte eine rasche Ausbreitung. Inzwischen rückt dieser bremsende Faktor jedoch in den Hintergrund.

Ein anderer Aspekt ist die Dunkelziffer. Diese ist in Afrika vermutlich hoch. Einige Länder verfügen nicht einmal über die nötigen Einrichtungen, um Tests durchzuführen. Noch heute wird in den meisten Ländern auf dem Kontinent wenig getestet, auch aus Kostengründen. Aber wären die realen Raten viel höher als die offiziellen, müsste sich das in einer Sterblichkeit niederschlagen, die man in den Spitälern und den Gemeinden bemerken würde. Bis jetzt gibt es jedoch keine Anzeichen dafür.

Klima, Alter und Bevölkerungsdichte

Eine naheliegende Erklärung für die niedrigen Zahlen wäre das Klima. Tatsächlich ist auffällig, dass Nord- und Südafrika mit ihren tieferen Temperaturen weitaus die meisten Infektionen aufweisen. Es gibt Hinweise, dass das Coronavirus in einer kühlen, feuchten Umgebung besser überlebt als im warmen, afrikanischen Klima. Zudem halten sich die Afrikaner oft ausserhalb ihrer vier Wände auf und sind der direkten Sonnenbestrahlung ausgesetzt, was die Ausbreitung des Virus möglicherweise auch hemmt. Aber diese Zusammenhänge sind momentan noch eher hypothetisch.

Ziemlich klar ist der Einfluss des Alters. Ältere Menschen sind gefährdeter, an Covid-19 zu sterben, als jüngere. Die afrikanische Bevölkerung ist relativ jung. Das Medianalter liegt bei 19,4 Jahren (Schweiz: 42,1 Jahre); 60 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25. Das bedeutet, dass es in Afrika zu weniger Todesfällen infolge von Covid-19 kommt. Aber es gibt wiederum andere Aspekte, die diesen Einfluss aufweichen: Vergleichsweise viele Afrikaner sind mangelernährt oder geschwächt durch Krankheiten wie Malaria oder HIV. Das erhöht das Risiko, an Covid-19 zu sterben. In Afrika leben die Generationen auch viel häufiger als in (Nord-)Europa unter einem Dach. Altersheime existieren nicht. Das erhöht einerseits die Gefahr, dass die Jungen die Älteren anstecken. Andererseits ist in einem Altersheim das Risiko hoch, dass sich die Bewohner gegenseitig anstecken, sobald einer infiziert ist.

Mit Afrika werden oft ein hohes Bevölkerungswachstum und eine hohe Bevölkerungsdichte assoziiert. Tatsächlich ist die Bevölkerungsdichte innerhalb des Kontinents in Ägypten, Marokko, Algerien und Südafrika am grössten, also genau in jenen Ländern, in denen Covid-19 am meisten grassiert. Daneben sind es Megalopolen wie Lagos oder Kinshasa, in denen sehr viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, was die Ausbreitung des Virus fördert. Aber abgesehen davon ist Afrika im Vergleich mit anderen Kontinenten eher dünn besiedelt. Im Schnitt wohnen in Afrika 42 Personen auf einem Quadratkilometer; in Italien sind es 207, im amerikanischen Gliedstaat New York 10?000.

Erfahrung mit Epidemien und Einfluss anderer Behandlungen

Was Afrika vermutlich auch zugutekommt, ist eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Epidemien wie Ebola, in deren Folge sich eine transkontinentale Zusammenarbeit und ein entsprechender Informationsaustausch etablierten.

Unklar ist bis jetzt der Einfluss von anderen in Afrika verbreiteten Behandlungen und Impfungen auf Covid-19. Es ist möglich, dass die häufige Behandlung von Malaria durch Chloroquin einen gewissen Schutz bewirkt. Hydroxychloroquin wird von manchen Medizinern wie dem Franzosen Didier Raoult in Kombination mit dem Antibiotikum Azithromycin als Heilmittel gegen Covid-19 propagiert und beispielsweise in Senegal den Patienten routinemässig verabreicht. In ähnlicher Weise wird untersucht, ob die Impfung gegen Tuberkulose mit dem Mittel BCG einen positiven Einfluss ausübt.

Die WHO zeigt sich bis jetzt skeptisch gegenüber solchen Hypothesen. Ganz generell weicht die internationale Organisation auch angesichts der eher tiefen Fallzahlen nicht von ihren pessimistischen Vorhersagen für Afrika ab. In einer aktuellen Studie geht sie von insgesamt bis zu 190?000 Toten durch Covid-19 und 29 bis 44 Millionen Infizierten innerhalb eines Jahres aus, wenn die verordneten Massnahmen scheitern. Weil die Kurve in Afrika flacher verläuft als auf anderen Kontinenten, rechnet die WHO mit einer länger dauernden Pandemie als anderswo.

Tatsächlich lockern Länder wie Nigeria und Südafrika ihre Ausgangssperren bereits, vermutlich weniger aus epidemiologischen als aus sozioökonomischen Gründen. Vor allem die arme Bevölkerung, die von der Hand in den Mund lebt, kämpft ums Überleben, wenn es ihr nicht möglich ist, ihr tägliches Brot zu verdienen.

Rassistische Wahrnehmungsverzerrung

Intellektuelle wie der Senegalese Felwine Sarr werfen der WHO und den westlichen Medien vor, solche Schreckensszenarien basierten auf Afropessimismus oder sogar Rassismus. Bei Afrika gehe man immer vom Schlimmsten aus und könne sich gar nicht vorstellen, dass der Kontinent die Krise besser meistere als Europa oder die USA. Vielleicht ist da etwas dran. Vielleicht hat Afrika aber auch gerade wegen all der Expertenwarnungen so rasch und konsequent reagiert. Immerhin ist der WHO-Generaldirektor, Tedros Adhanom Ghebreyesus, selbst Äthiopier. Rassismus kann man ihm wohl kaum vorwerfen. Eher schon rührte seine Sorge daher, dass er wusste, dass sich Afrika schlichtweg keine hohen Fallzahlen leisten kann, weil die Gesundheitsversorgung auf dem Kontinent sehr viel rascher als in anderen Weltgegenden an ihre Grenzen käme, mit schrecklichen Folgen für die Bevölkerung.