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Beitrag vom 25.04.2015

WirtschaftsWoche.de

Eine erfolgreiche Flüchtlingspolitik beginnt in Afrika

von Florian Willershausen, Hans Jakob Ginsburg und Silke Wettach

Die EU will mit Küstenwachen der illegalen Migration beikommen - doch das reicht nicht. Wenn das Sterben auf dem Mittelmeer enden soll, ist eine neue Afrikapolitik gefragt.

Es ist frustrierend für die französischen Soldaten, die in Afrikas grenzenlosem Wüstenstaat Mali stationiert sind. Fast täglich treffen ihre Patrouillen in der Sahara auf Kleinbusse voller Menschen auf dem Weg ins Schleuserzentrum Agadez in Niger. Doch sie aufzuhalten ist rechtlich unmöglich.

Die Soldaten, die Mali Frieden bringen und einen neuen Vormarsch von Islamisten verhindern sollen, müssen die armen Seelen ziehen lassen auf ihrer Reise in die Illegalität in Europa. Oder im viel schlimmeren Fall: in den Tod im Mittelmeer.

Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen

Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.

Tot oder vermisst

3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.

Zahl der Flüchtlinge in Europa

170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.

Syrer

66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.

Asylantrag

191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.

123.000 Syrer...

...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).

Asylbewerber in Deutschland

202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).

Steigende Zahl der Asylbewerber

Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.

Aufnahme der Flüchtlinge

Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).

Überfahrt nach Italien oder Malta

600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.

Offenbar bedurfte es erst der Fernsehbilder von vielen Hundert Toten, um die europäische Politik aus ihrer Gleichgültigkeit zu reißen. Vergangenen Donnerstag tagten die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel. Mehr Geld für Schiffe und Hubschrauber soll es zur Rettung von Menschenleben im Mittelmeer geben - das war unumstritten, ist aber nur eine Abkehr von Sparmaßnahmen, die seit Jahresanfang schreckliche Folgen hatten.

Auch die Zerstörung von mutmaßlichen Schlepperbooten kann allenfalls die Kosten der illegalen Migration erhöhen und dazu führen, dass arme nordafrikanische Fischer nach dem Verlust ihrer Kähne selbst zu Armutsflüchtlingen werden. Und die gerechte Verteilung der Flüchtlinge auf die 28 EU-Länder? Ein schönes, doch politisch fast aussichtsloses Ziel, das allenfalls die Nöte italienischer und deutscher Bürgermeister lindert, aber nicht das Elend, um das es eigentlich geht.

Suche nach besserem Leben

Der Treck der Flüchtlinge reißt nicht ab, er wird im Gegenteil immer länger. Neben den Leidtragenden des syrischen Bürgerkriegs kommen in erster Linie Afrikaner, die schon 2014 das Gros der in der EU registrierten 168.000 Flüchtlinge ausmachten. Auf der Suche nach einem besseren Leben flüchten viele Menschen aus Eritrea, Mali, Nigeria, Gambia, Somalia, Senegal und vielen weiteren Ländern.

Teils sind es Länder im Krieg und Bürgerkrieg, teils üble Diktaturen. Aber auch wo das nicht der Fall ist, fehlen jungen Menschen oft die Zukunftsperspektiven in der Heimat - und die suchen sie nun in Europa. "Migranten orientieren sich an anderen Migranten", sagt Heribert Dieter vom Berliner Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Gelingt einer großen Zahl von Menschen die Flucht übers Mittelmeer, sorgt dies für einen Anreiz, den gleichen Weg zu nehmen." Für dieses Jahr rechnen die Behörden mit bis zu einer Million illegaler Einwanderer auf dem Seeweg.

Es klingt zynisch, aber auch das eskalierende Flüchtlingsproblem folgt dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Seit in Libyen Chaos herrscht - auch als Folge des zu früh abgebrochenen Militäreinsatzes westlicher Staaten -, ist die lange Küste des nordafrikanischen Landes eine sichere Basis für Schleuser. Von hier aus organisieren sie die lebensgefährlichen Überfahrten nach Europa, für die sie einen stetigen Strom verzweifelter Kunden finden.

Vorschneller Triumph

Nicht nur aus Menschenfreundlichkeit, sondern auch im eigenen Interesse müssen die Staaten Europas reagieren. Doch in Brüssel und den meisten europäischen Hauptstädten neigen die Politiker dazu, hochkochende Konflikte so lange wie möglich zu ignorieren.

Der zaghafte Aufbruch zur Demokratie im Arabischen Frühling wurde vorschnell gefeiert und praktisch nicht unterstützt - weshalb Tunesien verarmt ist, sich in Ägypten das Rad rückwärts dreht und das unterentwickelte Libyen seinen Bürgerkriegsparteien überlassen wurde. Die islamistische Gefahr in Mali war für Europa kein echtes Thema, das überließ man dem Militär der alten Kolonialmacht Frankreich.

Gewalt und Chaos bilden überall den perfekten Humus für Armut und Abstieg. Der vielfache Mangel an Stabilität ist die eigentliche Ursache des Flüchtlingsdramas. Die Herrscher der geplagten Länder haben "häufig ein ausgeprägtes ökonomisches und politisches Interesse an der Auswanderung junger Menschen", konstatiert SWP-Experte Dieter.

Wer unzufrieden ist und auswandert, ist keine innenpolitische Bedrohung mehr. Und wer es lebend nach Europa schafft, wird irgendwann Geld an die Verwandten zu Hause überweisen - und so die marode heimische Wirtschaft stärken.

Höchste Geburtenrate

Für Europa führt darum kein Weg an einer wirtschaftlich orientierten neuen Afrikapolitik vorbei. Es reicht nicht, auf eine Fortsetzung des derzeitigen Aufwärtstrends in Afrika zu warten. Der Kontinent konnte zwar dank relativer politischer Stabilität in vielen Ländern über die vergangenen Jahre mit Zuwächsen der Wirtschaftsleistung um sechs bis sieben Prozent beeindrucken. Doch zugleich wächst die Bevölkerung: Binnen 25 Jahren hat sich die Zahl der Afrikaner auf mehr als eine Milliarde verdoppelt; das Jobwachstum konnte da nicht ansatzweise mithalten.

Etwa die Hälfte der Afrikaner ist jünger als 18 Jahre, und die meisten von ihnen haben keine Chance auf einen Job. In Afrika liegen die Länder mit den weltweit höchsten Geburtenraten. Dergleichen könne Europa auch nicht beeinflussen, meint Afrikafachmann Dieter. Wohl aber könne "Europa dazu beitragen, dass sich die wirtschaftlichen Perspektiven verbessern". Dieter stellt die skeptische Frage, ob die Handelspolitik der EU und der USA, welche die Afrikaner von einem "handelspolitischen Großprojekt" wie TTIP ausschließt, den afrikanischen Ländern nutzt. Die Antwort lautet: vermutlich nicht.

Darum kratzen afrikanische Großfamilien ihr erspartes Geld zusammen, um den klügsten jungen Männern aus der Verwandtschaft die Reise und das Schlepperhonorar von bis zu 2000 Euro zu finanzieren. Mit der bescheidenen Hoffnung, der Sohn oder Neffe werde in Europa genug verdienen können, um ihnen mit seinen Überweisungen ihr armseliges Leben ein wenig zu erleichtern.

Auch die afrikanischen Regierungen sind in der Pflicht

"Die Menschen haben völlig falsche Vorstellungen davon, was sie in der EU wirklich erwartet", sagt Olaf Böhnke vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Er befürwortet die Idee, in europäischen Botschaften Antragsstellen für afrikanische Asylbewerber einzurichten. Dort könnten die Interessenten eine realistische Beratung über die tatsächlichen Chancen in Europa erhalten.

Doch auch die afrikanischen Regierungen sind in der Pflicht. Gerade in der Wirtschaftspolitik muss sich viel ändern. "Es liegt vor allem an den Regierungen vor Ort, bessere Rahmenbedingungen für Investoren zu schaffen", sagt Christoph Kannengießer, Geschäftsführer des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft.

Die Bundesregierung wiederum könne zum Beispiel Hermes-Bürgschaften für Handelsgeschäfte vereinfachen, staatliche Kredite für Investitionen bewilligen und Entwicklungshilfeprojekte stärker an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausrichten.

Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland

Rechtlicher Status

Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.

Asyl

Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.

Sudsidiärer Schutz

Sogenannten suibsidiären, also nachrangigen Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als "international Schutzberechtigte" vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.

Duldung

Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.

Haben solche Vorschläge angesichts der vielen Toten im Mittelmeer jetzt mehr Chancen? Pierre Vimont, bis Februar Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes, ist skeptisch: "Nach jedem Vorfall gab es betroffene Gesichter, aber es ist nie zu einer richtigen Mobilisierung gekommen."

Eine Ausnahme ist allenfalls die Handels- und Agrarpolitik. Nach jahrelangen lautstarken Protesten der Zivilgesellschaft hat die EU diese Bereiche stärker an entwicklungspolitischen Zielen ausgerichtet. Für europäische Geflügelproduzenten lohnt es sich beispielsweise nicht mehr so wie früher, mit Dumpingpreisen für Hühnerfleischexporte afrikanische Bauern in den Ruin zu treiben.

Die EU-Kommission betont auch, dass Europa wesentlich mehr Agrarprodukte aus Entwicklungsländern importiert als andere entwickelte Länder. In der EU lag der Anteil an den Agrarimporten aus armen Ländern in den Jahren 2011 bis 2013 im Durchschnitt bei 2,8 Prozent. Kanada, die USA, Australien, Neuseeland und Japan kamen zusammen nur auf durchschnittlich 0,4 Prozent.

Italienischer Plan

Wirtschaftspolitik kann allerdings im besten Fall in ein paar Jahren die Zustände so ändern, dass weniger Afrikaner auswandern wollen. Kurzfristig mag da eher der Plan der italienischen Regierung wirken, potenzielle Migranten schon weit vor der Mittelmeerküste quasi umzuleiten.

Italien wird ein Pilotprojekt in Niger starten, ein Land, das viele Afrikaner auf dem Weg nach Libyen durchqueren. In einem Auffangzentrum soll sondiert werden, wer überhaupt Chancen auf Asyl in Europa hat. Die anderen sollen aber nicht einfach zurückgewiesen werden. Sie sollen Alternativen aufgezeigt bekommen.

Im Klartext heißt das: Es gibt die Rückfahrkarte in die Heimat, aber mit der Hilfe zu einem Neustart. Wenn das Projekt in Niger erfolgreich ist, soll ein zweites Zentrum in Tunesien entstehen.

Migranten aus Kriegsgebieten wie Syrien, dem Irak oder Somalia ist so freilich nicht zu helfen; die meisten Asylbewerber kamen 2014 aus Syrien. Da bleibt Europa nichts als Diplomatie und aktive Außenpolitik. "Im Grunde wissen alle, was getan werden muss, aber ich sehe nicht sehr viel politischen Willen", sagt Diplomat Vimont, heute beim Thinktank Carnegie Europe tätig.

Wie viele grauenhafte Fernsehbilder vom Mittelmeer sind wohl noch nötig, bevor sich das ändert?