Beitrag vom 30.05.2013
Berliner Zeitung
Mali
Der Heilige Krieg beginnt erst
Von Johannes Dieterich
Womöglich haben die französischen Kommandeure der Operation "Serval" in Mali zu früh gejubelt: In der gesamten Sahelzone breitet sich der islamistische Terror immer weiter aus,
Der Karikaturist der französischen Tageszeitung Libération braucht für den komplexen Sachverhalt kein einziges Wort. Er lässt eine bleichhäutige Faust auf die kartografischen Umrisse des westafrikanischen Staates Mali hauen, zahllose mit Schnellfeuergewehren bewaffnete bärtige Figuren purzeln in sämtliche Nachbarstaaten. Frankreichs Intervention im bis Anfang dieses Jahres von Islamisten besetzten Norden Malis hat eine Kettenreaktion ausgelöst, so die Botschaft des Zeichners.
Sie spiegelt sich auch in den vom Pariser Außenministerium veröffentlichten Reisewarnungen wider, die für diesen Teil der Welt immer länger werden. Von der mauretanischen Atlantikküste bis nach Somalia am Indischen Ozean zieht sich ein Band orange oder gar dunkelrot gekennzeichneter Länder: Die Sahelzone ist zum neuen Zentrum des islamistischen Terrors geworden.
Aufgeschreckt wurde die Fachwelt von zwei Selbstmordattentaten, die im malischen Nachbarstaat Niger mehr als 30 Menschen in den Tod rissen. Es waren die ersten derartige Anschläge in dem von der medialen Aufmerksamkeit nicht gerade verwöhnten Staat. Ziele waren eine Kaserne und eine Einrichtung des französischen Urankonzerns Areva. Hinter dem professionell vorbereiteten Anschlag soll Mokhtar Belmokhtar gestanden haben, der berüchtigte einäugige Chef der "Maskierten Brigade", den tschadische Soldaten vor Wochen im Norden Malis getötet zu haben glaubten. "Belmokhtar lebt", meldete ein mauretanischer Sender mit guten Verbindungen zu den Islamisten. Der Heilige Krieg sei nicht etwa gescheitert, er beginne erst.
Verfrühter Jubel
Womöglich haben die französischen Kommandeure der Operation "Serval" in Mali zu früh gejubelt. Man habe im Verlauf der Intervention hunderte islamistischer Kämpfer ausgeschaltet, hieß es Ende des vergangenen Monats. Doch in Wahrheit ist wohl auch Hunderten die Flucht in die Nachbarländer gelungen. Sie zogen sich zunächst in die Weiten der Sahara in Mauretanien, Algerien, dem Süden Libyens und dem Norden Nigers zurück. Von da aus sollen manche bis in den Tschad und den Sudan, nach Kamerun und Nigeria geflohen sein. Dort verbündeten sie sich mit örtlichen islamistischen Gruppen, die - wie die Sekte Boko Haram in Nigerias Norden - bereits seit Jahren ihren blutigen Konflikt mit der Zentralgewalt austragen.
Boko Haram verfüge plötzlich auch über schwere Waffen wie Panzerfäuste und Maschinengewehre, klagte das nigerianische Militär, bevor es zu einer beispiellosen Großoffensive ausholte. Kampfhubschrauber bombardierten vermeintliche Ausbildungslager und legten im Grenzgebiet zum Tschad und Kamerun ganze Dörfer in Schutt und Asche.
Nigerias Militär behauptet, den Islamisten eine empfindliche Niederlage beizubringen. Hunderte von Sektenmitgliedern seien bereits verhaftet, Dutzende getötet worden. Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau besteht auf einer anderen Version: An vielen Orten seien die Soldaten in die Flucht geschlagen worden. Seine Botschaft verband er mit einem Aufruf an Dschihadisten aus aller Welt, sich dem Kampf für einen islamischen Staat im Norden Nigerias anzuschließen.
Loses Netzwerk
Wie eng die Zusammenarbeit zwischen den Dschihadisten tatsächlich ist, ist unter Fachleuten umstritten. Während Nigerias Regierung davon ausgeht, dass Boko-Haram-Mitglieder im fernen Somalia von der Al-Schabaab-Miliz ausgebildet wurden und die Sekte auch engste Verbindungen zur Al-Kaida im Maghreb (Aqim) unterhalte, gehen Terrorexperten eher von einem losen Netzwerk örtlich verwurzelter Gruppen wie der in Mali neu gebildeten "Bewegung für Einheit und Heiligen Krieg in Westafrika" (Mujao) aus. Allerdings schickt sich Mujao derzeit an, zu einer überregional operierenden Kraft zu werden.
Warum die Sahelzone zu einem Eldorado für Dschihadisten werden konnte, ist weniger umstritten. Der Aufstieg sei ein opportunistischer Auswuchs einer sich seit Jahrzehnten anbahnenden Krise, meint Claire Spencer vom britischen Forschungsinstitut "Chatham House". "Ihre Wurzeln sind in der Armut, der Zerstörung traditioneller Lebensweisen und der Vernachlässigung der Bevölkerung seitens der Zentralregierung zu suchen."
Bei allen sonstigen Unterschieden haben Staaten wie Mali, Nigeria, der Tschad und der Sudan eines gemeinsam: Dass sich die Bevölkerung in den auch klimatisch unwirtlichen Randregionen von der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes vernachlässigt fühlt.